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die Reinheit seines Bildes nicht ver-
unreinigen; darum rührte er wohl nicht
daran; deutete nur darauf hin. Vielleicht
— auch das kann der Fall sein — fügte
er sich nur einem künstlerischen Gebot,
demselben, das ich oben andeutete. Viel-
leicht war es auch nur eine Lebens-
Erfahrung, die ihn leitete.
Wohlverstanden — er kennt eine
moralische Grenze nicht; Wenige sind so
frei von Urtheil wie er. Es kommt ihm
gar nicht in den Sinn, dass es ein Gut
oder Böse gibt. Er kennt nur Thatsachen,
harte, scharfe, nackte Thatsachen, die
aufeinander stoßen. Und die stellt er ins
Licht, ohne irgend jemand oder irgend
etwas zu scheuen. Wohl aber kennt er
eine künstlerische — und auch mensch-
liche — Grenze. Die hält er mit tödt-
licher Sicherheit inne.
Man vergleiche hierzu — zugleich
als Beweis für seine oben geschilderte
Technik — die Entwicklung des Liebes-
verhältnisses zwischen Julian und Frau
von Rénal, der Mutter der ihm an-
vertrauten Zöglinge, dann der Liebe
zwischen Julian und Mathilde, der stolzen,
vielumworbenen Tochter seines Gönners,
des Barons de la Mole (in »Rouge et noir«);
man beleuchte beide und setze sie in
Verhältnis zu einander; man gehe die
ganze Scala all dieser Empfindungen
durch; man nehme dann die letzten Scenen
im Gefängnis vor der Hinrichtung Julians.
Überall eine Zurückhaltung, eine Vor-
nehmheit, eine Scheu, die letzten Dinge
zu sagen und ihnen auf den Grund zu
gehen, die nicht unbewusst sein kann.
Er hält damit seinen Stoff zusammen
und gibt dem Bilde die Gleichmäßigkeit
und ruhige, reife Kühle im Ton. Er weint
seine Thränen nicht auf dem Markt. Auch
darin ist er ein Widerspiel unserer Zeit.
Man macht Stendhal auch den Vor-
wurf, seine Gestalten seien oft nebelhaft
und verschwommen, treten nicht recht
ins Dasein. Der Übersetzer schließt sich
dem an. Ist das nicht vielleicht auch
eine Folge jener Erfahrung? Diese per-
spectivische Art des Sehens, wo manches
unklar, wenig nur scharf hervortritt — ist
sie nicht künstlerisch berechtigt und wahr?
Im Gang des Lebens kommen und gehen die
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Gestalten und von manchen behält man
nur ein flüchtiges, verschwommenes Bild.
Henry Beyle gibt manche Gestalten so.
Wer ihm hier einen Vorwurf macht —
fehlt ihm nicht das künstlerische Maß?
Henry Beyle will nicht alles enthüllen,
sagte ich. Dieser vornehme, aristokratische
Ton unterscheidet ihn vortheilhaft von
jener plebejischen Art, die alles bis zum
letzten geben will und sich damit einem
Tohu-wabohu nähert, das allein vom künst-
lerischen Standpunkt aus schon zu ver-
urtheilen ist; sie verräth dabei nur die
eigene Untiefe. Dieser Sinn ist ein Zeug-
nis für die innere Harmonie, ebenso wie
die Vielfältigkeit, der Reichthum seiner
Zähmung für die Tiefe und Vielfarbigkeit
seiner Gefühle; ebenso wie die Sicherheit
seiner Hand, die das Steuer festhält in-
mitten all der Stürme und Widerspenstig-
keiten — inmitten all der Polyphonie
dieser Leidenschaften behält er immer
seine ruhige, felsenharte und leichte,
spielende Hand — und das Schiff glatt
und eben hindurchgleiten lässt, für die
Bändigung seiner Instincte und die Reife
seiner Lebensanschauung. Höchste Stil-
einheit ist bei ihm zu finden.
Unbeabsichtigt gibt er damit ein Vor-
bild, und indem er dieses ganze bunte
Treiben künstlerisch zu einer Harmonie
zu vereinigen weiß, weist er unwillkürlich
auf jene größere Harmonie hin, von der
die andere nur ein Abbild und Zeugnis
ist. Darin beruht zum größten Theil sein
bleibender Wert. Damit deutet er, ohne
dass er es will, hin auf den Zug und
den Sinn des Lebens, an dessen Thoren
er steht. Er erzog sich und zog sich dann zu-
rück. Er ist in höherem Sinne ein Erzieher,
als heute mancher ein Erzieher sein möchte.
Freilich, eines schickt sich nicht für
alle, und ebenso auch nicht für alles.
Und dieser Autor sagt im Hinblick auf
eine unumwundene Anerkennung seines
Talentes von seiten Balzacs ruhigen
Geistes von sich: »Ich glaubte, ich würde
nicht vor 1880 gelesen werden.«
Er ist etwas zu optimistisch gewesen;
bei uns wenigstens wird er wohl auch
um 1900 herum noch nicht gelesen werden.
Wenigstens nicht mit dem Verständnis,
das er dann erwarten zu können glaubte.
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