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Seit länger als zwei Jahrzehnten
haben die Bilder Carrières den Stumpf-
sinn der »Salons« überstrahlt; man
konnte auch, bei Goupil und bei Bing,
ganze Arbeitsperioden des Meisters
beurtheilen. Aber die Gesetze einer
solchen Kunst aufzufinden, gelingt nur
einer das Ganze umfassenden Betrach-
tung, welche, die Evolution vom Beginn
verfolgend, die Parallel-Entwicklung der
Kraft und der Beherrschung (Technik),
sowie das zunehmende Erstarken des
Willens zur Selbst-Emancipation erkennt.
Dies ist das Werk eines Zusammen-
gesetzten, welchen der Schmerz des
Da-Seins inspiriert hat; es erwuchs
aus seelischen Erfahrungen, von
Carrière durch den Satz: »Das Andere
in sich selbst sehen und sich im Anderen
wiedererkennen« ausgedrückt. Dies ist
nicht mit »Mitleid« und Gefühlsdusel
zu verwechseln, sondern es ist einer-
seits eindringendste Gehirnarbeit, an-
dererseits den Erkenntnissen jener My-
stiker verwandt, welchen Eugen Car-
rière zuzuzählen ist; mögen ihn die
Vielen missverstehen, denen die sug-
gestive Bedeutung der Kunst unver-
ständlich ist und deren innere Vulga-
rität alles Transcendentale von vorn-
herein ablehnt. Carrière ist Elsässer.
Er ist ein realistischer Visionär, der
wie Maurice Barrès die »Grenzen
zwischen Traumwahrheit und Beob-
achtungswahrheit« zu finden sucht; er
hat immer »die Identität von Geist
und Thatsache gefühlt«. Als Schüler
schon ehrte er zwei Meister, die auch
zugleich Veristen und Geistige sind:
La Tour und Velasquez. Sie verhalfen
ihm zum Sich-selbst-verstehen und er
hat sich trotz der École des beaux
arts mehr mit ihnen beschäftigt, als
mit Cabanel. Die Betrachtung La
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Tour’scher Masken in Saint-Quentin
gab ihm Verständnis sculpturaler Con-
structionen und schärfte seine Fähig-
keit zu psychologischer Divination, dem
Porträtisten wertvoll. Ohne Spanien zu
bereisen oder die Meninas zu ahnen,
hat er in Velasquez seinen Ahnen er-
kannt; es verbindet sie die Höhe des
Stils und die Erkenntnis des Gleich-
gewichtes zwischen moralischen und
Lichtwerten.
Man bemerkte bei Carrière nie viel
von den üblichen Zweifeln der Anfänger;
seine Aspirationen entfesselten sich ohne
Hemmung und formten sich ohne
Kraftvergeudung. Er suchte von Anfang
an (ähnlich wie Rodin) das Wesen und
die Bedeutung der Geste zu verstehen
und ihre Beziehungen zum Instinct
und zur Willensäußerung festzuhalten.
Ohne sich von der Beobachtung zu
entfernen, gelangt er zum berechtigten
Pathos, welches der Synthese entspringt;
hierher gehören die große »Mütterlich-
keit« im Luxembourg u. a. Seine Porträts
erscheinen wie Beichten, sein Verlaine,
Goncourt, Chavannes u. a., bleiben mit
Rodins Büsten die tiefsten und erstaun-
lichsten Darstellungen denkender Wesen,
welche das Jahrhundert gekannt hat.
Carrière ist zum Symbolischen
durch die Intuition der Liebe gelangt,
durch die Macht seiner Conception zu
einer Technik, welch letztere das Ergeb-
nis einer sehr zur Synthese geneigten In-
telligenz ist. Nie gab es engere, noth-
wendigere Beziehungen zwischen Idee
und Ausdruck, Gefühl und Werk. Seine
Bilder sind in Halbdunkel getaucht,
welches Einige irrthümlich für »Melan-
cholie« hielten; es ist aber nur logisch
und nöthig, als Mittel, das von den
Bestimmtheiten des Einzelnen zur
grenzenlosen Wesenheit der Dinge,
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