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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 86

Text

HECKEL: FRIEDRICH DER UNZEITGEMÄSSE.

von der Illusion zur Wahrheit führt.
Nichts ist geeigneter zur Befreiung des
Geistes, als diese grauen Nuancen,
Harmonien, Licht-Erscheinungen der
heure élue, deren fließende Beleuchtung
langsam die Formen auflöst. Durch

den Ton des Leidens und der Ver-
sunkenheit hindurch erweckt sie das
Bewusstsein der Ewigkeit und lässt
das Illusionistische des Einzelnen em-
pfinden. Carrière hat an das innere
Licht appelliert.

FRIEDRICH DER UNZEITGEMÄSSE.
Von CARL HECKEL (Mannheim).

So ist eine Photographie Nietzsches
unterschrieben, die er 1873 einem Freunde
schickte. Er wandte damit ein Wort auf
sich selbst an, das er vier Jahre früher
von Richard Wagner gebrauchte, als er
ihn »unzeitgemäß im schönsten Sinne«
nannte.

Gilt es heute noch? Man scheint, nein
sagen zu wollen. Aber täuschen wir uns
nicht. Die reiche Literatur über Nietzsche
beweist kaum etwas. Die Popularität seines
Namens noch weniger. Denn wer Nietzsche
heute nicht mehr unzeitgemäß nennen
will, muss zugestehen, dass man wieder
einmal mit Erfolg bestrebt war, das Un-
gewöhnliche dem Alltäglichen einzupassen.

Wird dies nicht von Weimar aus allzu-
sehr begünstigt?

Ich verkenne nicht die Verdienste Jener,
die im Nietzsche-Archiv walten und weben
und denen wir jetzt die Veröffentlichung
der Briefe Nietzsches* als Buch verdanken;
aber es scheint mir doch, dass Übereifer,
Mangel an Perspective und eine unan-
gebrachte Hast bei der Veröffentlichung
seiner nachgelassenen Schriften und Briefe
das Wachsthum seines Ruhmes nach der
Breite, statt nach der Tiefe, gefördert
haben.

Wagner ist es ähnlich ergangen, nur
auf andere Weise. Indem man sein großes
Erbe in Bayreuth sorgsam vor aller Ein-
wirkung von außen behütete, gelangte man

dahin, auch jene Quellen abzudämmen,
deren Zufluss Wagner auf das allerinnigste
ersehnt hatte. Dadurch aber war man
gezwungen, es resigniert der Über-
schwemmung durch das internationale
Modepublicum preiszugeben.

Die Anhängerschaft des Bayreuther
Meisters, vor allem Zahl und Macht der
Wagnervereine ist vielleicht allezeit über-
schätzt worden; aber dieser Überschätzung
lag eine instinctive, hohe Wertung dessen
zugrunde, was Wagner als »noch ver-
borgene Kräfte des deutschen Wesens«
bezeichnete und was sich in der That
zum erstenmale als eine tiefere, volks-
thümliche Theilnahme an der Kunst zu
entfalten strebte.

Wie ernst Nietzsche in dieser Sache
fühlte, beweist uns von neuem sein Brief-
wechsel mit Carl von Gersdorff. Er schrieb
ihm 1872 im Hinblick auf Wagner und
Bayreuth: »Was Du auch thun magst
— denke daran, dass wir beide mit be-
rufen sind, an einer Culturbewegung unter
den Ersten zu kämpfen und zu arbeiten,
welche vielleicht in der nächsten Generation,
vielleicht noch später der größeren Masse
sich mittheilt. Dies sei unser Stolz, dies
ermuthige uns; im Übrigen habe ich
den Glauben, dass wir nicht geboren
sind, glücklich zu sein, sondern unsere
Pflicht zu thun; und wir wollen uns
segnen, wenn wir wissen, wo unsere
Pflicht ist.«

* Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe (erster Band), herausgegeben von Peter Gast
und Dr. Arthur Seidl (Schuster & Loeffler, Berlin). — Es sei hier auf eine eben erschienene
Schrift von J. Zlitler (Verlag Seemann, Leipzig) verwiesen, die in ganz zutreffender Weise
Nietzsche als Ästheten (also nicht Philosophen) zu erklären sucht. Red.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 86, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0086.html)