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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 89

Text

HARTMANN: ÜBER DIE OCCULTE BEDEUTUNG ALLGEM. GEBRÄUCHL. WORTE.

genannt, aber eine einheitliche, knappe
Erläuterung vermöchte die Verständlich-
keit und damit auch den Genuss wesent-
lich zu erhöhen. Ich erkenne gern an,
dass die Sammlung und Sichtung der
Briefe an sich eine verdienstvolle Arbeit
bleibt und dass es nicht möglich ist, den
oben genannten Bedürfnissen allzu aus-
giebig zu entsprechen, aber es scheint
doch, dass die Herausgabe unter dem
Verlangen einer möglichst frühzeitigen
Veröffentlichung gelitten hat. Dass ein
Band der nachgelassenen Schriften wieder

zurückgezogen werden musste — und es
war gut so, dass es geschah — sollte
doch vor jeder Übereilung warnen.
Nietzsche läuft nicht Gefahr, zu spät zu
kommen.

Jn der Verleger-Ankündigung der Briefe
heißt es: »Eben erst hat sich die Erde
über der sterblichen Hülle des großen
Classikers geschlossen. Wie ein Ver-
mächtnis, das Nietzsche seiner großen
Gemeinde hinterlassen hat, werden dann
seine Briefe wirken!« Zeitgemäß,
höchst zeitgemäß!*

* Weiteres folgt.

ÜBER DIE OCCULTE BEDEUTUNG ALLGEMEIN GEBRÄUCH-
LICHER WORTE.
Von FRANZ HARTMANN (Florenz).

Jedem, der gewohnt ist, mitunter
etwas tiefer als nur oberflächlich zu denken,
wird es klar geworden sein, dass viele
von unseren allgemein gebräuchlichen
Worten eine viel tiefere, oder, was
hier dasselbe ist, höhere Bedeutung haben,
als man gewöhnlich annimmt, und dass,
wenn die Menschen im allgemeinen diese
höhere Bedeutung richtig erfassen würden,
sie dadurch selber auf eine höhere Stufe
der Entwicklung zu stehen kämen; denn
es gehört Hohes dazu, um das Hohe zu
fassen, und das Streben nach dem Hohen
zieht uns empor. Aber wir leben in einem
Zeitalter der Oberflächlichkeit. Tausender-
lei Dinge nehmen unsere Aufmerksamkeit
in Anspruch, so dass uns keine Zeit übrig
bleibt, das Einzelne genau zu betrachten;
das Handwerk erhebt sich über die Kunst
und von einer Flutwelle intellectueller
Grübelei wird die Intuition fortgeschwemmt.
Die Hast, mit der wir stets nach etwas
Neuem suchen, ist die Ursache, dass wir die
Schätze, welche wir bereits besitzen, nicht
erkennen; man hält die Schale für den Kern,
kümmert sich nicht weiter um das, was nicht
bereits klar vor den Augen liegt, und kommt
dabei nicht über das Alltägliche hinaus.

So gibt es z. B. in unserer Sprache
eine Menge von Worten, deren Sinn sich
auf Dinge bezieht, welche jenseits von
unserem intellectuellen Begriffsvermögen
liegen, die aber dennoch geistig erfasst
werden können, denn sonst wäre ihr
Dasein nutzlos und sie hätten für uns
keinen Sinn, und viele andere, von deren
Bedeutung man sich eine falsche oder
verkehrte Vorstellung macht, weil man
deren wahren Sinn nicht ins Auge fasst
und ihn nicht erkennt. Zu diesen gehören
besonders diejenigen Bezeichnungen, welche
sich auf religiöse Dinge oder auf Seelen-
zustände beziehen; ihr Sinn ist noth-
wendigerweise »occult« oder »verborgen«;
nicht weil man ihn, wie manche glauben,
»verheimlichen« will, sondern weil niemand
in Wahrheit einen Zustand begreifen
kann, in welchem er sich niemals selber
befunden hat und von dem er folglich
keine Erfahrung besitzt. Um uns von
höheren Seelenzuständen einen richtigen
Begriff zu machen, dazu muss das höhere
Seelenleben erst in uns selber erwacht
sein, und ohne die Erfüllung dieser Be-
dingung führen alle theoretischen Specula-
tionen über dergleichen Dinge zu nichts

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 89, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0089.html)