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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 90

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HARTMANN: ÜBER DIE OCCULTE BEDEUTUNG ALLGEM. GEBRÄUCHL. WORTE.

als zu Phantasien und Albernheiten, und
selbst wenn eine auf diese Weise erlangte
Theorie richtig ist, so ist der Besitz einer
Theorie noch lange keine eigene Erkennt-
nis, denn diese geht nur aus der eigenen
Erfahrung hervor. Theorien und Meinungen
sind Spielsachen für den menschlichen
Intellect; das wahre Geistige kann nur
im Geiste der Wahrheit erfasst werden.
Aber auch dies werden wir nicht be-
greifen, solange der Geist der Wahrheit
nicht in unser Bewusstsein gekommen ist.

Dieser Geist ist der Geist der Selbst-
erkenntnis und der wahren Religion, und
ohne diesen wird auch der Sinn des
Wortes »Religion« nicht richtig erfasst.
Um zu begreifen, was Religion ist, muss
man selbst Religion haben, und diese
besteht nicht darin, dass man als Kirchen-
mitglied eingeschrieben ist und gewisse
äußerliche Gebräuche befolgt, sondern
dass man in seinem Herzen diejenige
Kraft erkennt, welche den Menschen an
Gott bindet und ihn zum göttlichen
Dasein zurückführen kann. Die wahre
religiöse Erkenntnis geht aus dem religiösen
Bewusstsein hervor. Die Religion im
wahren Sinne des Wortes ist »Wissen-
schaft« in einem höheren Sinne, d. h.
nicht ein hohles, intellectuelles Verstandes-
wissen, sondern eine geistige Herzens-
erkenntnis von Dingen, die der Verstand
allein nicht begreifen kann, weshalb denn
auch St. Paul (I. Korinth. II. 7) in Bezug
auf dieselben sagt: »Wir reden nicht
von der Weisheit dieser Welt, auch nicht
von der der Obersten (Gelehrten) dieser
Welt, welche vergehen, sondern von der
verborgenen, occulten Weisheit Gottes
(Theosophie), welche keiner der Obersten
dieser Welt erkannt hat«. Die wahre
Religion (nicht zu verwechseln mit dem
Sektiererthum) ist die Grundlage aller
höheren Entwicklung und in dem Grade,
als die Menschheit lernt, sich von ihr
einen höheren Begriff zu bilden, wird sie
durch dieselbe emporgehoben.

Ähnlich wie mit der Religion, verhält es
sich mit der Kunst. Das Wort »Kunst«
stammt von »können«. Dies ist aber noch
nicht der richtige Künstler, der nichts
weiter kann, als die Natur nachzuahmen.
Die wahre Kunst ist keine Ausgeburt der
Natur; sie stammt aus dem, woraus die

Natur entsprungen ist, und ein »Künstler«
kennt nicht die richtige Kunst, wenn er
nur ein Nachahmer und nicht selber ein
Schöpfer ist.

Das Erhabene bleibt für das Nicht-
erhabene ewig verborgen oder »occult«.
Auch dieses Wort wird selten richtig ver-
standen. Es gibt sogenannte »Occultisten«,
welche meinen, die occulte oder geheime
Wissenschaft bestehe darin, dass man sich
in Theorien über die Ursachen von Ge-
spenster-Erscheinungen, Spukgeschichten
und dergleichen ergeht; aber die wahre
occulte Wissenschaft fängt nicht dort
an, wo die höhere geistige Erkenntnis
eintritt, welche nicht dem irdischen
Menschenverstande, oder, um mit den
Indiern zu sprechen, »Kama-Manas«,
sondern dem göttlichen Theile, dem »Engel
im Menschen« oder »Buddhi-Manas«
angehört. Die alltägliche Wissenschaft geht
aus der äußerlichen Beobachtung und
Schlussfolgerung, das höhere occulte Wissen
aus dem innerlichen Erwachen und der inner-
lichen Erleuchtung hervor, welche aber nur
derjenige kennt, der sie empfangen hat.

Unsere religiöse, philosophische, ja
selbst die gewöhnliche Literatur wimmelt
von Ausdrücken, die sich auf Dinge beziehen,
für welche wir keine Begriffe haben, weil
der menschliche Intellect an sich selbst
beschränkt ist und das Unbeschränkte
nicht fassen kann. Wir können die Unend-
lichkeit wohl empfinden und vielleicht
gelehrt darüber reden, aber sie nicht intel-
lectuell begreifen. Da ist z. B. vom Abso-
luten, von Ewigkeit, Gott, Glaube, Liebe,
Hoffnung, Unsterblichkeit u. s. w. die
Rede; aber wer kann den Sinn dieser
Worte begreifen, wenn er die Dinge, auf
welche sie sich beziehen, nicht fühlt?
Für den Verstand allein sind sie trotz
aller Theorien, die man darüber schreibt,
unbegreiflich. Das »Absolute« oder »Be-
ziehungslose« steht in Beziehung zu nichts
und ist deshalb auch ein Nichts in Beziehung
auf unsern Verstand; wir können es wohl
ahnen, weil es unserem eigenen Dasein
zugrunde liegt, aber die Erkenntnis des-
selben tritt erst dann ein, wenn in uns
selbst das Bewusstsein des absoluten Seins
erwacht, welches weder zu unserem »Selbst«,
noch zu irgendetwas außer uns Beziehungen
hat. Ein solcher Zustand ist intellectuell

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 90, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0090.html)