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werden. Im Strudel des Lebens, im Wirbel
der Leidenschaften stehen wir unter der
Herrschaft der angenommenen Selbstheit;
in Augenblicken der Ruhe und Erhebung
erkennen wir unsere eigene Wertlosig-
keit im Lichte des höheren, wahren
Selbst. Wenn es uns gelingt, gleichsam
außer uns selbst zu stehen, die Wert-
losigkeit unserer stets wechselnden Be-
gierden, Vorurtheile, Leidenschaften und
alles, was dem Egoismus angehört, zu
erkennen, dann wird uns dieser Unterschied
theilweise klar. Da kann es sein, dass
wir in solchen Augenblicken durch diese
Atmosphäre des Eigendünkels, die uns
wie ein Nebel umgibt, ein Wesen erkennen,
welches rein und leidenschaftslos ist,
welches alles mit dem Maßstabe der
Gerechtigkeit misst, welches sich nicht
um unsere Phantasien und Vorstellungen,
Neigungen und Abneigungen kümmert,
welches nicht vermittelst der Logik nach
der Wahrheit ringt, sondern dieselbe
vielmehr direct erkennt, und zwar eine
Wahrheit, von der wir uns keinen Begriff
machen können; ein Wesen, welches
keinen Zweifel mehr hegt und dessen
himmlische Klarheit von unserer Unrein-
heit nicht getrübt wird; ein göttliches
Wesen, das von unserer irdischen Persön-
lichkeit verschieden ist. Wir blicken zu
ihm in Ehrfurcht empor, wir nähern uns
ihm durch die Kraft des Geistes der
Liebe und entdecken in ihm am Ende
unser alleiniges, wahres und göttliches
Selbst.
Ein anderes Wort, welches einen tief
religiösen Sinn hat, ist das Wort »Mensch«;
aber wer kann dieses Geheimnis völlig
begreifen, als Derjenige, welcher das Ziel
aller Evolution erreicht hat und ein wirk-
licher Mensch im wahren Sinne dieser
Bezeichnung geworden ist? Millionen von
menschlichen Wesen leben und sterben,
ohne zum Bewusstsein der Hoheit und
Würde des wahren Menschen oder zur
Erkenntnis seines Wesens gekommen zu
sein.
Über das so vielfach missbrauchte
Wort »Geist« ließen sich Bände schreiben;
eine genauere Untersuchung würde es
klarmachen, dass gewisse Dinge, die
man »Geister« nennt, gar keinen Geist
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haben. Intellectuelle Thätigkeit und Geist
werden beständig miteinander verwechselt
und der wahre Geist von Wenigen er-
kannt. Würde die Welt den wahren Sinn
dieses Wortes verstehen, so entstünde der
Himmel auf Erden; aber unsere Erd-
bewohner werden ihn nicht begreifen,
solange sie nicht selbst mehr geistig ge-
worden sind. Geist ist Bewusstsein. Ein
Ding, das bewusstlos ist, kann sich keinen
Begriff von dem Zustande des Bewusst-
seins machen; der wahre Sinn des Wortes
Geist wird uns erst dann erkennbar sein,
wenn wir selber zum wahren Selbst-
bewusstsein gekommen sind.
Nichts beweist so sehr, dass wir
Planetenbewohner ein Traumleben führen,
als der Umstand, dass wir die Dinge,
von denen wir sprechen, nur traumhaft
erkennen und den Sinn der Worte, die
wir gebrauchen, nur halbwegs begreifen.
Wir alle sprechen oft viel weiser, als
wir es wissen. Es scheint, dass unsere
Voreltern, unter denen unsere Sprache
entstand, tiefer als wir in die Geheimnisse
des Lebens eingeweiht waren. Sie kannten
die Dinge, von denen sie sprachen, und
wussten ihnen die richtigen Namen zu
geben; wir haben die Namen, aber nicht
den richtigen Begriff. Die Ursache davon
ist, dass uns die Empfindung fehlt; denn
wie könnte man was »begreifen«, das
man nicht einmal zu fühlen imstande ist?
Hunderte von Beispielen nur halb
verstandener Worte könnten angeführt
werden. Nehmen wir z. B. das Wort
»Existenz«, so liegt schon darin eine
Erklärung des Welträthsels und der
Schlüssel zu einem ganzen System von
Philosophie. »Existenz«, von dem latei-
nischen ex — aus und est
ist, zeigt ein
»Außensein«, ein von dem absoluten Sein
verschiedenes Dasein an. Durch den Act
der »Schöpfung« sind die Dinge »ent-
standen«, d. h. sie sind aus der Quelle
ihres Daseins, aus ihrem nichtoffenbaren
Zustande herausgetreten und fiengen an, zu
ex-istieren. Vorher waren sie als Ideen
im allgemeinen Weltgeiste, dann wurden
sie aus diesem Sein ins »Da-sein« gebracht.
Auch das Wort »Schöpfen» hat einen
ganz anderen Sinn, als man gewöhnlich
meint, und ist nicht eine Erschaffung aus
nichts. Ähnlich wie man Wasser aus
einem Brunnen schöpft und Gedanken
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