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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 93

Text

HARTMANN: ÜBER DIE OCCULTE BEDEUTUNG ALLGEM. GEBRÄUCHL. WORTE.

aus der Tiefe des beziehungsweise »Unbe-
wussten«, so muss auch bei der Schöpfung
eines Weltalls das Material, wenn auch
unsichtbar und im Geiste, vorhanden sein,
ehe es geschöpft werden und zum Vor-
schein kommen kann. Wie Viele ge-
brauchen ein derartiges Wort und wie
Wenige haben den wahren Sinn desselben
entdeckt!

Das Wort »Entdecken« bedeutet
gleichfalls etwas mehr, als ein »Ausfinden«.
»Ent-decken« ist gleichsam ein Hinweg-
räumen der Decke der Unwissenheit,
welche unseren Verstand umnebelt und
eine Wahrheit verhüllt. Eine Entdeckung
ist eine »Entschleierung«, eine »Offen-
barung«. Niemand kann einem Andern
in Wirklichkeit eine Wahrheit »offenbaren«;
er kann höchstens die Decke hinweg-
ziehen; dann wird die Wahrheit von
selbst offenbar.

Ähnlich verhält es sich mit dem
Worte »Entschließen«. Viele können
nur deshalb keinen Entschluss fassen, weil
sie den Sinn dieses Wortes nicht richtig
begreifen. »Ent-schließen« ist ein »Auf-
schließen«, wodurch gleichsam der Vor-
hang zerrissen wird und ein neuer Licht-
strahl in die Seele Zutritt erlangt. Wem
es gelungen ist, einen wirklichen Ent-
schluss zu fassen, dem wird auch in der
Regel die Ausführung nicht schwer; aber
ein bloßes »Vorhaben« oder »Vornehmen«
ist noch lange kein Entschluss; obgleich
es oft dafür gehalten wird.

Das Wort »Zerstreuung« hat eine
tiefe, aber wenig beachtete metaphysische
Bedeutung. Wer nicht gesammelt lebt,
sondern ein äußerliches, sinnliches Leben
führt, den Leidenschaften, Phantasien und
Begierden huldigt, der zerstreut thatsäch-
lich im Raume diejenigen Kräfte, welche
dazu dienen sollten, die Individualität
aufzubauen und den Charakter zu be-
festigen. Anhaltende Zerstreuung führt zur
»Verlotterung«. Ein bekannter Meta-
physiker sagt darüber Folgendes: »Der
Astralkörper in unserm Innern muss
wachsen, als ein vom physischen Körper,
mit dem er Zelle für Zelle verbunden
ist, verschiedenes Ding. Dies geschieht
nur langsam. Ein Verdruss, Ärger oder
irgendeine andere Leidenschaft bricht
die ungebildete Kraft und der »Doppel-

gänger« sinkt in seine alten Fesseln zu-
rück. Die innerliche Sehkraft hat vielleicht
schon angefangen, sich zu entwickeln, da
kommt die Eifersucht, der Neid, der
Zorn, und decken einen Schleier darüber.
Der Astralkörper hat vielleicht schon an-
gefangen, sich zu consolidieren; aber alte,
sinnliche Gewohnheiten treten wieder auf
und ziehen die in ihm angesammelte
Substanz wieder heraus. — Ein Mensch,
der so seine Kräfte vergeudet, ist am
Ende thatsächlich »verlumpt«.

Betrachten wir das Wort »Einbil-
dung
«. Man verwechselt es in der Regel
mit Phantasie und Träumerei. In Wirk-
lichkeit ist dieselbe die Kraft, durch den
Willen und Gedanken Bilder aus der
Substanz unseres Gemüthes zu formen,
sie in unsere geistige Sphäre hinein zu
bilden, und wenn wir im Vollbesitz dieser
Kraft wären, so könnten wir die so
gebildeten Formen sogar durch einen Act
des Willens verkörpern und sie äußerlich
sichtbar machen. Diese magische Kunst
ist aber heutzutage kaum noch im Besitze
einiger Yogis und Fakire des Ostens:
denn unsere Gedanken sind geistlos und
schattenhaft geworden und haben wenig
Bestand. Ein vom Geiste durchdrungener
Gedanke ist eine lebendige Wesenheit.
Wir wissen nicht mehr, was »Einbildung«
ist; denn unsere Gedanken sind kraftlos
und unsere Einbildung — man könnte
sagen »imaginär«.

Ähnliches könnte über den »Willen«
gesagt werden; der heutzutage gewöhnlich
mit »Wunsch«,»Begierde«, »Absicht«
u. dgl. verwechselt wird. Der wahre,
freie, geistige Wille kann Welten er-
schaffen; aber unser Wille ist so schwach
und durch die Selbstsucht gebunden, dass
wir uns durch ihn nicht einmal selbst
beherrschen, viel weniger noch etwas
außer uns vergönnen können. Unser Wille
ist nicht frei, weil unsere Erkenntnis
nicht vollkommen ist. Wir glauben zu
herrschen und werden doch nur von den
Gefühlen und Vorstellungen, die in uns
auftreten und uns beeinflussen, beherrscht.

Mit unserer »Erkenntnis« ist es
nicht besser bestellt, und deshalb wird
auch der Sinn des Wortes »Selbst-
erkenntnis« nur von Wenigen begriffen.
Die Selbsterkenntnis ist eine Kraft, welche

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 93, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0093.html)