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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 94

Text

THEATER.

in unserem jetzigen Zustande der Er-
niedrigung nur Wenige kennen. Man
meint, Erkenntnis eines Dinges zu haben,
wenn man weiß, was ein anderer darüber
gesagt oder geschrieben hat. Aber die
wahre Erkenntnis besteht nicht in Theorien
oder Meinungen, sondern in der Selbst-
erkenntnis, und niemand kann Selbst-
erkenntnis von etwas haben, das nicht ein
Theil seiner Selbstheit ist. Die wahre
Selbsterkenntnis ist das Resultat der Ver-
einigung des Erkennens mit dem Er-
kannten durch die Kraft des Erkennens.
Sie ist folglich nicht jenes intellectuelle
Kennen, welches durch äußerliche Beobach-
tung und Schlussfolgerung entsteht, sondern

das Resultat der Identificierung von Sub-
ject und Object, was nur auf geistigem
Wege geschehen kann. Die wahre Selbst-
erkenntnis ist somit diejenige, welche
unserem höheren geistigen Selbstbewusst-
sein entspringt. Sie ist die Erkenntnis
der Wirklichkeit, vor deren Licht alle
Täuschungen wie Schatten im Lichte der
Sonne verschwinden.

Diese Untersuchungen könnten noch
beliebig lang ausgedehnt werden; aber
das Gesagte genügt, um hinzuweisen auf
die tiefere Bedeutung von Worten, welche
vielfach gebraucht und nicht immer richtig
verstanden werden.

THEATER.

Die Präceptoren-Komödie, die uns
das Burgtheater kürzlich vorgeführt,
lehrt neuerdings, dass Vorsicht der bessere
Theil unserer jungen Literatur geworden.
Alle Kühnheit, die von jeher die Mutter
der Kunst gewesen, scheint jämmerlich
geschwunden, und mit einer senilen Selbst-
bescheidung, die hauptsächlich speculative
Beschränktheit, somit also die Parodie
der künstlerischen Beschränkung ist, rührt
man an revolutionären Problemen und
gleitet mit einem raffinierten Gefühl für
Oberflächenwirkungen theils sorglos und
spielerisch, theils duckmäuserisch und feige
über alles Verfängliche, Unbequeme, Un-
praktische, Peinliche hinweg. Das ist im
tiefsten Grunde frivol. Es ist die erbärm-
lichste Frivolität, deren sich ein schöpferisch
Bemühter schuldig machen kann! Denn
nicht Das, was er sagt, sondern Das, was
er nicht zu sagen wagt, macht den Ge-
sinnungs-Autor.

Aber bezeichnend ist es, sehr bezeich-
nend, dass sich da wieder ein Dichter, der
ehedem von revolutionärer Gangart schien
— und dieser zum zweitenmale binnen
kürzester Frist — zu so bequemen
Triumphen entwürdigen konnte. O. E.
Schmidt, Verfasser der Gesinnungsposse
»Flachsmann als Erzieher«, rückt nun in

die Reihe L. Fuldas, der in den feigen
»Kameraden« (dem Vorbilde der »Jugend
von heute«) und früher schon in seinem vor-
sichtigen und scheinbar so beherzten »Talis-
man« einen ähnlichen Curs genommen;
er kreuzt sich mit O. E. Hartleben, der
gleichfalls im Gegensatze zu hochacht-
baren Anfängen — doch keineswegs in
so liebedienerischer Selbstverleugnung —
von seiner künstlerischen Entwicklungslinie
abgewichen; er stellt sich hinter M. Dreyer,
dessen Schülerstück doch wenigstens den
Spießer nicht überspießerte und mit einem
faunischen Hinweis auf Preußen schloss:
er wird wohl noch bis zu O. Blumenthal
hinabsinken, der einst — gleich ihm — mit
dichterischen Allüren begonnen; und also
mag er dann schließlich von neuen Ab-
trünnigen aus der allerjüngsten Generation
durch billigere Angebote vom Markte
verdrängt werden.

Spricht man heute von Schulkomödien,
dann wird man, was natürlich nirgends
geschehen ist, ein zeitgenössisches Buch-
drama hervorheben müssen, das — vor
ungefähr acht Jahren entstanden — dem
Schüler und Lehrermilieu und den Pro-
blemen dieses Bereichs in subtilster Ver-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 4, S. 94, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-04_n0094.html)