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tiefung (mit intuitivem Spürsinn und
künstlerisch reinen Mitteln) von der
psycho-physiologischen Seite beizukommen
sucht. Das Sinnes- und Seelenleben der
Kinder, in denen die reglementmäßige
Schulpflicht mit der hervorbrechenden
Pubertät zu einem Kampfe erwacht, deren
Grauenhaftigkeit und Grausamkeit wir alle
an uns selber erfahren haben, wird eigen-
artig geschildert und zu der Verständnis-
losigkeit der Eltern, zu der Stupidität der
Lehrer in tragikomischen Gegensatz gestellt.
Das Buch eröffnet in seiner visionären, my-
stischen und burlesken Weise die verschie-
denfachsten Perspectiven und ist bei all seiner
Sexualität eine durchaus ernste, lautere,
hochstehende Arbeit. Zudem enthält es
eine Lehrerconferenz-Scene, die in ihrer
grotesken Keckheit alles Ähnliche, alles
Nachgemachte, Gestohlene der Späteren
weitaus übertrumpft. Es nennt sich »Früh-
lingserwachen«, ist von Frank Wede-
kind, dem Münchener Dichter, in dramati-
scher Form für den Lesetisch geschrieben
und nimmt sich neben dem »Probe-Can-
didaten« oder neben »Flachsmann« etwa
wie »Götz« neben den Ritterdramen der
Friederike Kempner oder wie »Hamlet«
neben dem »Mikado« aus. Da niemand im
rechten Augenblick darauf aufmerksam
gemacht, ward an dieser Stelle davon
gesprochen.
Und noch etwas sei hier vermerkt:
Hartlebens frommes Militärstück gab
mir unlängst in diesen Blättern* Gelegen-
heit, auf die »Soldaten« zu verweisen.
Es sei nun neuerdings an Reinhold
Lenz erinnert, dessen Genie auch ein
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Lehrerstück von infernalischer Kühnheit
geschaffen hat: der »Hofmeister« ist
ein Gesinnungsdrama, wenn man will,
denn es tritt (was 1774 zeitgemäß war)
für die öffentliche Erziehung in Schulen
und Instituten ein, ohne unmittelbar dafür
zu plaidieren, und verlacht mit drastischer
Anschaulichkeit die »Vortheile der Privat-
erziehung«. »Die ganze Zauberei des
Genies, der volle Strom der Leidenschaft«
ist darin, möchte man mit Schubert sagen,
der das anonym erschienene Drama für
ein Werk des jungen Götzdichters hielt;
»es verspritzt vor Genie«, meinte Lavater;
»ein Poet à triple carillon«, bemerkte
Wieland; »das seltsamste und indefinibelste
Individuum«, erklärte Goethe. Und all
das galt dem livländischen Pastorssohn,
der später — aus Weimars Hofkreisen
vertrieben und wegen diverser »Eseleien«
von seinen Gönnern gering geschätzt —
ohne opportunistischen Kniefall in die
Fremde zog und dort an Hunger und
Wahnsinn wie ein Strauchdieb verkam.
Aber es gab damals noch Kühnheit unter
den jungen Dichtern, denen die Erziehung
zur Kunst noch nicht die Erziehung zum
Fettbauch war! Man muss da nicht ge-
rade an Schiller denken, der für sein Ge-
sinnungsdrama »Die Räuber« eine veri-
table Füsilade riskierte. Unter Vielen, sehr
Vielen, von denen heute fast nur der
Name überliefert ist, lebte der gleiche
Wagemuth und die nämliche Überzeugung,
dass Schöpfersinn ohne Opfersinn nicht
zu denken sei und dass die widrigste
Frivolität in dem ruchlosen Frevel liege,
die Sancta Artis Maiestas zur Dienerin
der Philister und Filze her abzudrücken,
ANT. L.
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