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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 140

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RUNDSCHAU.

verborgenen Orchester gespielt) zu Ende
gieng. Er war zu klagen gekommen; aber
die Trauer ganz vergessend, redet er das
Steinbild des Verblichenen an wie einen
Lebenden. Als er zu sich kommt, möchte
er dem Schmerze Gestalt voll Schönheit
geben: dreimal stößt er den Stab zu Boden
und ein Bild erscheint. Was sich jetzt
aufschloss und zu reden begann, war
Hofmannsthals »Tod des Tizian«.* Ein
Kinderchor von Beethoven beschloss die
Feier. Sie hatte kaum eine Stunde gedauert.

PAUL BRANN.

Oscar Wildes »Salome«, von
unserer Mitarbeiterin Hedwig Lachmann
ins Deutsche übertragen (vergleiche Juni-
heft 1900), ist vom akademisch-drama-
tischen Verein (München) mit Frl. Rauch
(Wiesbaden) in der Titelrolle zur Auf-
führung gebracht worden.

Mankiewicz-Ausstellung. Hierüber
wird uns geschrieben: Es handelt sich
hier um eine Vermischung zweier Ten-
denzen, da die Nadel offenbar ornamentale
Wirkungen anstreben muss, während die
Seide unmittelbar wirkt. Die Panneaux
und Gobelins früherer Zeiten entwickelten
die erstere Richtung, während hier die
zweite vorwiegend zur Geltung gelangt.
Alles Plastische ist wenig hervortretend,
dagegen ist ein merkwürdiges und heute
ungewöhnliches Verständnis für gewisse,
durch das starke Mittel (Seide) ermöglich-
ten Farben-Suggestionen constatierbar. So
ist das Roth auf der einen Arbeit unleugbar
tiefer erfasst, als es irgendein Öltechniker,
wenigstens hier, heute könnte, während
auf einer anderen gewisse Nuancen zwischen
Drap, Nelkengelb und Hechtgrau eine Unter-
gangsstimmung mit der Vision eines ver-
schneiten Waldes paraphrasieren. Eine
andere und tiefergehende Art der Stili-
sierung des Figuralen, etwa in der Weise
Cranes, würde diese Wirkungen deutlicher
machen; das können unter anderem auch
die Tapisserien des Mittelalters beweisen,
die oft nach Miniaturen hergestellt wurden,

wie die merkwürdige Apokalypse des
Jehan de Bruges, welche jetzt in der
Kathedrale von Angers hängt.

r. Die Formenkrise. Herr Van de
Velde
hat mit unserem Programm im
wesentlichen übereinstimmende Anschau-
ungen entwickelt. Dass in Kunstdingen,
wie überall, die moderne naturwissen-
schaftliche Methode angewendet werden
müsse, dass die Logik (ein Wort, das be-
kanntlich von Logoskommt) nicht
dem Künstlerischen widerspreche, sondern
im Gegentheil mit ihm identisch sei, ist
hier oft genug betont worden. Das Ver-
ständnis für ein Material und seine Mög-
lichkeit muss die Grundlage für seine Be-
handlung und Verwendung geben; jedes
Material trägt seine Zwecke in sich: die
Natur arbeitet teleologisch. Der Vor-
tragende hätte all dies vermuthlich noch
stärker betont, wäre er über die Ausartungen
des bei uns grassierenden decorativen
Schwachsinns genauer unterrichtet gewesen.
Dem Verlangen dieser Subjectiven, die
sich gerne für Individualisten halten
möchten, nach persönlichen Kleidern,
Bucheinbänden, Villen und Tintenfässern
liegt der antipsychologische Aberglaube
an die Einheitlichkeit des Menschlichen
zugrunde und die Unkenntnis der That-
sache, dass es sich hier um eine com-
binierte Action verschiedener Principien
und Schichten handelt, deren jede ihren
besonderen Ausdruck erfordern würde. Das
Wirken auf der höheren Stufe erfordert
aber stets den Verzicht auf die niederen;
darum strebt jedes Genie transformierend
nach völliger Emancipation von überflüs-
sigen Äußerungen und ignoriert die Ver-
ständigungsmittel der Zurückgebliebenen.
Dieser Grundsatz von der Beruhigung der
niederen Manifestation zu Gunsten der
höheren erfordert eben auch die, hier
natürlich unverstanden gebliebene, Gleich-
heit der Kleidung, welche erst die Wir-
kungen des Gesichtsausdruckes hervortreten
lassen soll.

* War in den »Blättern für die Kunst« abgedruckt.

Verantwortl. Redacteur: R. Dworschak. — K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 140, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0140.html)