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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 141

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

1. APRIL 1901

V. JAHRGANG, NR. 7


DER TRACTAT VON NARCISS.
(Theorie des Symbols.)
Von ANDRÉ GIDE (Paris).
Deutsch von E. R. Weiß .

Nuper me in littore vidi.

Virgil.

Die Bücher sind vielleicht keine be-
sonders wichtige Sache. Anfangs ge-
nügten einige Mythen. Eine ganze Reli-
gion hieng daran. Das Volk staunte über
den Schein der Fabeln und betete an,
ohne zu begreifen. Die aufmerksamen
Priester, gebeugt über den Tiefsinn
der Bilder, durchdrangen langsam den
geheimen Sinn der Hieroglyphen. Dann
wollte man auslegen. Die Bücher haben
die Mythen erweitert. — Aber einige
Mythen genügten.

So auch der Mythus von Narciss:
Narciss war vollkommen, schön.
Und darum war er keusch. Er
verschmähte die Nymphen
, weil
er verliebt war in sich selbst
.
Kein Hauch störte die Quelle, in
der er
, ruhig und gebeugt, sein
Bild bewunderte
— Ihr kennt
die Erzählung. Trotzdem werden wir
sie weiter sagen. Alle Dinge sind schon
gesagt. Aber da niemand zuhört, muss
man immer wieder von vorn anfangen.

Keinen Uferhang und keine Quelle
gibt’s mehr. Keine Verwandlung und
keine bewunderte Blume. Nichts, als
den einzigen Narciss, den Träumer und
sich in Grisaillen Isolierenden. In der
unnützen Eintönigkeit der Stunde be-
unruhigt er sich, und sein Ungewisses
Herz befragt sich. Er will endlich er-
fahren, was für eine Form seine Seele
hat. Er fühlt, sie muss über alles
anbetungswürdig sein, wenn er sie
nach ihren tiefen Schauern beurtheilt.
Aber sein Gesicht! Sein Bild! Ach!
Nicht zu wissen, ob man sich liebt!
Seine Schönheit nicht zu kennen! Ich
verwirre mich in dieser Landschaft
ohne Linien, die ihren Flächen nicht
widerspricht. Ach! Sich nicht sehen
können! Ein Spiegel! Ein Spiegel! Ein
Spiegel!

Und Narciss, der nicht daran
zweifelt, dass seine Form irgendwo ist,
erhebt sich und geht auf die Suche
nach den erwünschten Contouren, um

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 141, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0141.html)