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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 115

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WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. MÄRZ 1901

V. JAHRGANG NR. 6


DIE ARME FRAU (LA FEMME PAUVRE).
Von LÉON BLOY.
(Deutsch von E. R. Weiß , Baden-Baden.) I.

Das Mittelalter, mein Kind, das war
eine ungeheuere Kirche, wie man keine
mehr sehen wird, bis Gott wieder auf
die Erde kommt — ein Land des
Gebetes, soweit, wie der ganze Occident
und gebaut auf zehn Jahrhunderten der
Ekstase, die an die zehn Gebote Sabaoths
denken machen. Das war das alles
umfassende Niederknien in Anbetung
oder Schrecken. Die Lästerer selbst
und die Blutgierigen lagen auf den
Knien, weil es keine andere Stellung
gab in Gegenwart des furchtbaren Ge-
kreuzigten, der alle Menschen richten
sollte Draußen, da gab es nichts,
als die Finsternisse, voll von Drachen
und höllischen Ceremonien. Man war
immer beim Tod Christi und die Sonne
zeigte sich nicht. Die armen Leute auf
dem Lande bestellten den Boden mit
Zittern, als hätten sie Furcht, die
Jüngstverstorbenen aufzuwecken. Die
Ritter und ihre Kriegsknechte ritten
schweigsam, an den Horizonten, in der
Dämmerung. Die ganze Welt weinte,
um Gnade flehend. Manchmal öffnete

ein plötzlicher Windstoß die Thüren
und stieß die dunklen Gestalten von
draußen bis hinein ins Heiligthum,
dessen Leuchten alle erloschen — und
man hörte nichts mehr, als einen sehr
langen Schrei des Entsetzens, wieder-
hallend in den zwei engelischen Welten
— hoffend, dass der Stellvertreter des
Erlösers seine schrecklichen, beschwören-
den Hände erhoben Die tausend
Jahre des Mittelalters waren die Dauer
der großen christlichen Trauer, von
eurer heiligen Patronin Clotilde bis zu
Christoph Columbus, der die Schwär-
merei der christlichen Liebe mitnahm
in seinen Sarg — denn nur die Heiligen
und die Antagonisten der Heiligen sind
fähig, die Begrenzungen der Geschichte
festzusetzen.

Eines Tages — es ist viele Jahre
her — war ich Zuschauer bei einer der
großen Überschwemmungen der Loire.
Ich war sehr jung, daher einfältig und
auch wenig gläubig, wie man es ist,
wenn man von allen Scorpionen der
Phantasie gebissen wird. Ich war vier-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 115, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0115.html)