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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 116

Text

BLOY: DIE ARME FRAU.

undzwanzig Stunden gereist, in den
fröhlichen Tourainegegenden, die damals
das Zittern der Sturmglocke erfüllte.
Soweit meine Blicke schweifen konnten,
auf allen Wegen und Pfaden, durch
das Weingelände und die Wälder habe
ich die Panik einer Bevölkerung in
Verzweiflung gesehen, fliehend vor der
wahnsinnigen Mörderin, welche die
Dörfer verschlang, die Brücken hinweg-
riss, Waldflächen mit sich führte,
Trümmergebirge, Scheunen, gefüllt mit
den Ernten, Herden sammt ihren
Ställen, und all diese Hindernisse drehte
und wand, brüllend wie eine Herde
Nilpferde. Das unter einem gelben,
blutig-trüben Himmel, der das Aussehen
eines anderen Flusses im Zorn hatte
und eine Vervollkommnung der Ver-
nichtung anzukündigen schien. Endlich
kam ich an eine kleine, außer sich
gerathene Stadt; und ich folgte einer
bleichen Menge, die sich in eine alte
Kirche stürzte, deren Glocken alle
zumal heulten. Niemals werde ich dieses
Schauspiel vergessen. Inmitten des
dunklen Schiffs war ein alter, zerstörter
Schrein aufgestellt, den man irgendwo
unter dem Altar hervorgezogen. Acht
Kohlenfeuer, auf Rosten und Kohlen-
becken angezündet, erhellten ihn, gleich
Kerzen auf dem Boden. Rundherum
Männer, Frauen und Kinder, ein ganzes
hingeschmettertes Volk, sich wälzend
auf den Fliesen, die Hände gefaltet
über den Köpfen, den Heiligen an-
flehend, dessen Gebeine sie da hatten,
er möge sie von der Geisel befreien.
Die hohle See der Seufzer war unge-
heuer und erneute sich mit jedem
Augenblick, wie das Athmen des Meeres.
Schon tief erregt durch alles, was
vorausgegangen, begann ich zu weinen
und vereinigten Herzens mit der armen
Menge zu beten und da erkannte ich
mit den Augen des Geistes und mit

den Ohren der Seele, was das Mittel-
alter gewesen sein musste.

Ein plötzliches Zurückströmen
meiner Vorstellungskraft versetzte mich
mitten hinein in diese fernen Zeiten, da
man sein Leiden nur unterbrach, um
zu stehen. Die Scene, die ich vor Augen
hatte, ward für mich das gewisse Vor-
bild für hunderttausend gleiche Scenen,
vertheilt unter dreißig unglückliche
Generationen, deren erstaunliches Elend
in den Weltgeschichten kaum erwähnt
wird.

Von Attila bis zu den muselmanni-
schen Einfällen, und von der berühmten
»Raserei der Normannen« bis zu der
englischen Wuth, die hundert Jahre
dauerte, erwog ich, dass Millionen
Unglücklicher sich überall also hin-
gossen vor den geheiligten Reliquien
der Märtyrer oder der Bekenner, die
man die einzigen Freunde der Armen
und Jammervollen nannte.

Wir anderen, die Canaille, wir sind
die Söhne dieser wunderbaren Geduld.
Und seitdem wir, seit Luther sammt
seinem Schwanz von Schwätzern die
großen Gebieter des Paradieses verleug-
neten, die unsere Väter getröstet, war es
gerecht, dass wir von dem Mahl der
Poesie abgesondert wurden, zu dem die
einfachen Seelen geladen waren. Denn
diese Menschen des Gebetes, diese
Unwissenden, die ohne Murren Unter-
drückten, die unser idiotischer Dünkel
verachtet, trugen in ihren Herzen und
in ihren Gehirnen das himmlische
Jerusalem. Sie übersetzten, wie sie es
konnten, ihre Ekstasen in den Stein der
Kathedralen, in die brennenden, ge-
malten Scheiben der Kapellen, auf den
Velin der Gebetbücher, und all unser
Bemühen ist — wenn wir ein wenig
Fähigkeit haben — zurückzusteigen zu
dieser leuchtenden Quelle

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 116, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0116.html)