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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 117

Text

BLOY: DIE ARME FRAU. II.

Es handelt sich um einen Pilger,
wie es im Mittelalter einige gab, der
auf der ganzen Erde den »Garten der
Wollust« suchte. Höre:

»Man hat weder jemals einen so
fürchterlichen Pilger gesehen, noch wird
man jemals wieder einen sehen. Seit
seiner Kindheit suchte er das irdische
Paradies, das verlorene Eden, den
Garten der Wollust — durch den das
Weib so tief symbolisiert ist — in dem
Gott der Herr mit seinem Ebenbilde
sprach, nachdem er es aus dem Staube
geformt hatte.

Diesem Pilger waren auf allen be-
kannten und unbekannten Wegen die
Menschen und die Schlangen begegnet
und hatten sich von ihm abgewendet,
denn die Psalmen drangen ihm aus
allen Poren und er war geschaffen
gleich einem Wunder.

Seine ganze Persönlichkeit ähnelte
einem alten Gesang der Lust und
musste unlängst unter für immer ver-
borgenen Seufzern empfangen worden
sein.

Die Sonne machte ihn unzufrieden.
Innerlich geblendet von seiner Hoffnung,
schienen ihm die Lichtkatarakte des
Krebses oder des Einhorns von einer
traurigen Lampe zu kommen, die im
Verlöschen begriffen ist, vergessen ist
in einer Katakombe voll Gefangener.

Er allein unter allen Menschen
erinnerte sich an den Feuerherd von
Herrlichkeiten, von dem sein Geschlecht
verbannt war, damit die Schmerzen
begännen und damit die Zeit begänne.

Musste sich dieser Feuerherd nicht
irgendwo finden lassen, den die Sünd-
flut nicht auslöschen konnte, da der
Cherubim immer da war, um die stür-
zenden Wasserströme abzuweisen?

Sicherlich genügte es, gut zu suchen,
denn die Zeit hat keine Erlaubnis,
etwas zu zerstören, das ihr nicht an-
gehört.

Und der Pilger pilgerte in den
Ekstasen, träumend, dass dieser Garten
das Gebiet Derer gewesen, die nicht

sterben mussten, und dass die neun-
hundertunddreißig Jahre des Vaters der
Väter vernünftigerweise erst
beginnen konnten in dem Augen-
blick
, indem er ein Sterblicher
wurde
. Die Dauer seines Aufenthaltes
im Paradies war vollkommen unaus-
drückbar in menschlichen Zahlen; wagte
man Millionen Jahre der Entzückung
zu vermuthen, nach der Art zu zählen,
wie sie gebraucht wird unter den Kindern
der Todten «

Hier verwirrt sich mein Gedächtnis,
wenigstens was Worte und Bilder an-
geht. Aber ich habe den Plan behalten.

Dieser Pilger suchte so sein Leben
lang, beständig getäuscht und beständig
von Hoffnung entzückt, brennend vor
Glauben und brennend vor Liebe. Sein
Glaube ist so groß, dass die Gebirge
sich theilen, um ihn durchgehen zu
lassen, und seine Liebe ist so stark,
dass man ihn nachts für die Feuer-
säule halten könnte, die vor dem
hebräischen Volke wandelte.

Er kannte die Müdigkeit nicht und
fürchtete keine Art von Entblößung.
Seit mehr als hundert Jahren, die er
sucht, hat er keine Stunde der Traurig-
keit gehabt. Im Gegentheil, je älter er
wird, desto freudiger wird er, denn er
weiß, dass er nicht sterben kann, ohne
gefunden zu haben, was er sucht.

Aber endlich kommt der Augen-
blick heran, unzweifelhaft. Er hat die
Erde so durchsucht, dass es keinen
einzigen Winkel mehr gibt auf ihr, sei
es der niedrigste oder der schreck-
lichste, den seine Hoffnung nicht be-
sucht hätte. Er hat das Bett der Flüsse
durchlaufen und ist auf dem Grunde
der Meere gewandert.

Entscheidend also, dass er ange-
kommen, hält er zum erstenmale an
und stirbt vor Liebe auf einem Fried-
hof Aussätziger, inmitten dessen der
Baum des Lebens steht und in dem
sich ergeht, gleich uns, inmitten der
Gräber, der Geist des Herrn.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 6, S. 117, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-06_n0117.html)