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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 142

Text

GIDE: DER TRACTAT VON NARCISS.

endlich seine ganze Seele einzu-
kleiden.

Am Ufer des Flusses der Zeit hat
Narciss Halt gemacht. Verhängnisvolles
und täuschendes Ufer, an dem die
Jahre vorübergehen und ablaufen. Ein-
facher Rand, wie ein roher Rahmen,
in den das Wasser eingefasst ist, wie
ein Spiegelglas ohne Spiegelfolie: hinter
dem sich nichts sähe, hinter dem sich
die leere Öde ausbreitet. Ein lang-
weiliger, lethargischer Canal, ein fast
ebener Spiegel. Und nichts machte
dieses graue Wasser sich von seiner
farblosen Umgebung unterscheiden,
wenn man nicht merkte, dass es fließt.

Von weitem hielt Narciss den Fluss
für eine Straße, und da er sich lang-
weilte in all dem Grau, hat er sich
genähert, um etwas vorübergleiten zu
sehen. Die Hände auf dem Rahmen,
neigt er sich jetzt, in der herkömm-
lichen Stellung. Und da, wie er schaut,
geschieht’s, dass auf dem Wasser sich
plötzlich eine kleine Erscheinung viel-
farbig zeigt — Uferblumen, Baumäste,
Stücke blauen Himmels, gespiegelt,
eine ganze Flucht schneller Bilder, die
nur auf ihn warteten, um zu sein, und
die unter seinem Auge sich färben.
Dann öffnen sich Hügel, und Wälder
ziehen längs den Thalhängen — Ge-
sichte, die nach dem Lauf der Wellen
wogen und welche die Fluten ver-
schieden zeigen. Narciss betrachtet in
Verwunderung, aber begreift nicht gut,
denn das eine und das andere hält
sich im Gleichgewicht, ob seine Seele
die Flut leitet oder ob es die Flut ist,
die sie führt.

Wo Narciss schaut, da ist Gegen-
wart. Aus der fernsten Zukunft drängen
sich die noch thatkräftigen Dinge zum
Sein. Narciss sieht sie. Dann gehen
sie vorüber, laufen ab in die Ver-
gangenheit. Narciss findet bald, dass
das immer dieselbe Sache ist. Er fragt.
Dann sinnt er nach. Immer dieselben
Formen gehen vorüber. Der Schwung
der Flut allein macht sie verschieden.

Warum sind’s mehrere? Oder viel-
mehr, warum dieselben? — Also sind
sie unvollkommen, da sie immer von
neuem anfangen und alle, denkt

er, mühen sich und streben nach etwas,
nach einer ersten verlorenen Form —
einer paradiesischen und krystallenen.

Narciss träumt vom Paradies.

I.

Das Paradies war nicht groß. Weil
sie vollkommen waren, blühten alle
Formen drin nur einmal, und ein Garten
fasste sie alle. — Ob es war oder nicht
war, was thut’s? Aber wenn es war,
war es wie die vollkommene Form
Gottes. Alles krystallisiert sich darin
zu seiner nothwendigen Form, und
alles war vollkommen so, wie alles
sein musste. Alles blieb unbeweglich,
denn nichts wünschte, besser zu sein.
Einzig die ruhevolle Schwerkraft ließ
langsam das Ganze sich entwickeln.

Und da kein Aufschwung, weder
in der Zukunft, noch in der Vergangen-
heit, sich verliert, war das Paradies
nicht geworden — es war einfach von
jeher.

Keusches Eden! Garten! Garten
der Ideen, wo die Formen, rhythmisch
und sicher, ohne Anstrengung ihre
Zahl offenbarten, wo jedes Ding war,
als was es erschien. Denn beweisen
war unnütz.

Eden! wo die singenden Lüfte in
vorhergesehenen Kreisen sich wiegten;
wo der Himmel den Azur über den
symmetrischen Grasplan spannte, wo
die Vögel von der Farbe der Zeit
waren, und die Schmetterlinge auf den
Blumen Harmonien bildeten, von der
Vorsehung bestimmt, wo die Rosen
rosig waren, weil die Rosenkäfer grün
waren, die kamen, darum, sich drauf-
zusetzen. Alles war vollkommen wie
eine Zahl und baute sich regelmäßig
nach seiner Natur. Der Zusammenhang
der Linien gebar einen Accord. Über
dem Garten lagerte ein gleichtönender
Einklang.

In der Mitte Edens streckte Ygdrasil,
der logarithmische Baum, seine Lebens-
wurzeln in den Boden und führte über
den Rasenrund den dichten Schatten
seines Laubes, in dem sich die einzige
Nacht breitete. Im Schatten lehnte sich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 142, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0142.html)