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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 146

Text

GIDE: DER TRACTAT VON NARCISS.

Indessen betrachtet Narciss am Ufer
diese Vision, die ein verliebtes Ver-
langen verwandelt; er träumt. Der ein-
same, knabenhafte Narciss verliebt sich
heftig in das zerbrechliche Bild. Er
neigt sich im Bedürfnis nach Zärt-
lichkeit, um seinen Liebesdurst zu stillen,
über das Wasser. Er neigt, und plötz-
lich — da verschwindet die Phantas-
magoric. Über dem Wasser sieht er
nichts mehr, als zwei Lippen vor den
seinen, die sich strecken, zwei Augen,
die seinen, die ihn betrachten. Er ver-
steht, dass er das ist — dass er allein
ist — und dass er sich verliebt in sein
Gesicht. Ringsum — ein leerer Azur,
den seine bleichen Arme zertheilen, die
er voll Verlangen ausstreckt durch die
zerbrochene Erscheinung und die sich
in ein unbekanntes Element eintauchen.

Darauf erhebt er sich ein wenig.
Das Gesicht weicht fort. Die Oberfläche
des Wassers färbt sich vielfältig wie
früher und die Vision erscheint wieder.
Aber Narciss sagt sich, dass der Kuss

unmöglich ist — man muss ein Bild
nicht verlangen wollen; eine Bewegung,
um es zu besitzen, zerstört es. Er ist
allein. Was thun? Betrachten.

Ernst und fromm nimmt er seine
ruhige Stellung wieder ein. Er bleibt
— ein wachsendes Symbol — und
fühlt, geneigt über die Erscheinung der
Welt, in sich aufgesaugt, undeutlich
die menschlichen Generationen vorüber-
gehen.

Dieser Tractat ist vielleicht nichts
sehr Nöthiges. Einige Mythen genügten
zuerst. Dann hat man erklären wollen.
Der Priesterstolz, der die Mysterien
offenbaren will, um sich anbeten zu
lassen — oder vielmehr lebhafte Sym-
pathie und diese apostolische Liebe,
die machen, dass man die geheimsten
Schätze des Tempels entschleiert und
sie profaniert, indem man sie zeigt, —
weil man darunter leidet, allein zu be-
wundern, und möchte, dass die anderen
anbeten.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 146, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0146.html)