Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 145

Text

GIDE: DER TRACTAT VON NARCISS.

Unerschöpfliche Messen, jeden Tag,
um Christum wieder in Agonie zu ver-
setzen, und das Publicum in der Stel-
lung des Gebetes Ein Publicum!
— Müsste man die ganze Menschheit
fußfällig hinstrecken, dann genügte eine
Messe.

Wenn wir verstehen, aufmerksam
zu sein und zu betrachten, was sähen
wir für Sachen, vielleicht

III.

Der Dichter ist der, der betrachtet.
Und was sieht er: das Paradies.

Denn das Paradies ist überall.
Glauben wir den Erscheinungen nicht.
Die Erscheinungen sind unvollkommen.
Sie stammeln die Wahrheiten, die sie
verhehlen. Der Dichter muss — auf
eine Andeutung hin — begreifen, dann
diese Wahrheiten wiederholen. Macht
der Gelehrte etwas anderes? Auch er
sucht den Urtypus der Dinge und die Ge-
setze ihrer Nachfolge. Schließlich setzt
er eine ideal einfache Welt zusammen,
in der sich alles natürlich anordnet.

Aber der Gelehrte sucht diese ersten
Formen in einer langen und ängstlichen
Induction, auf dem Wege unzähliger
Beispiele. Denn er bleibt bei der Er-
scheinung stehen und, verlangend nach
Gewissheit, wehrt er sich, zu rathen.

Der Dichter, er, der weiß, dass er
schafft, räth durch alle Dinge durch —
und ein einziges genügt ihm, ein sym-
bolisches, um seinen Urtypus zu ent-
decken. Er weiß, dass die Erscheinung
nur dessen Vorwand ist, ein Kleid,
das ihn verbirgt und an dem das
profane Auge anhält, das uns aber
zeigt, dass er da ist.*

Der fromme Dichter neigt sich in
Betrachtung über die Symbole, steigt
schweigsam tief ins Herz der Dinge
— und wenn er seherisch die Idee, die
innere harmonische Zahl seines Wesens
durchdrungen hat, das die unvollkom-
mene Form trägt, ergreift er sie, un-
bekümmert um diese vorübergehende
Form, die sie in der Zeit umkleidete,
und er weiß ihr die einzige Form
wiederzugeben, ihre Form, endlich die
wahrhaftige und über sie verhängte —
paradiesische und krystallinische.

Denn das Kunstwerk ist ein Kry-
stall-Theil des Paradieses, in dem die
Idee wieder aufblickt in ihrer höchsten
Reinheit; wo, wie in dem verschwun-
denen Eden, die natürliche und noth-
wendige Ordnung alle Formen einge-
richtet hat in einer wechselseitigen und
symmetrischen Abhängigkeit, wo der
Stolz des Wortes den Gedanken nicht
vertreibt — wo die rhythmischen und
sicheren Phrasen, noch Symbole, aber
reine Symbole, wo die Worte sich
durchsichtig und offenbarend machen.

Solche Werke krystallisieren sich
nur im Schweigen. Aber es gibt manch-
mal Schweigen inmitten der Menge,
wo der Künstler, geflüchtet wie Moses
auf dem Sinai, sich isoliert, aus den
Dingen fortgeht, aus der Zeit, sich um-
hüllt mit einer Atmosphäre von Licht
über der beschäftigten Menge.

In ihm ruht sich langsam die Idee
aus, dann thut sie sich blühend auf,
außerhalb der Stunden. Und wie sie
nicht in der Zeit ist, vermag auch die
Zeit nichts über sie. Sagen wir viel-
mehr: man fragt sich, ob das Paradies,
selber außer der Zeit, nicht vielleicht
niemals war, außer eben dort — das
heißt: nur ideal.**

Und ich gebe nicht vor, diese Theorie sei neu. Die Lehren der Entsagung predigen
nichts anderes.

Die moralische Frage für den Künstler ist nicht, ob die Idee, die er offenbart, mehr
oder weniger moralisch und der großen Zahl nützlich ist; die Frage ist, ob er sie gut offenbare.
Denn alles muss geoffenbart werden, selbst die tödtlich traurigsten Dinge. »Wehe dem, durch
den das Ärgernis geschieht«, aber: »Es ist nothwendig, dass das Ärgernis geschehe.« — Der
Künstler und der Mensch, der wahrhaft Mensch ist, der für etwas lebt, soll vor allem das Opfer
seiner selbst gebracht haben. Sein ganzes Leben ist nur eine Einleitung dazu.

Und nun: was offenbaren? — Man lernt das im Schweigen. (1890.)

* Hat man verstanden, dass ich symbolisch nenne — alles, was erscheint?

**: Die erste Note wieder lesen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 145, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0145.html)