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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 144

Text

GIDE: DER TRACTAT VON NARCISS.

unbeweglicher Spiegel, in der gleichen
Reinheit des Bildes, endlich gleich, bis
zur Verschmelzung mit ihnen — die
Linien dieser verhängnisvollen Formen
aussprechen — um sie endlich zu
werden.

Wann endlich wird die Zeit, ihre
Flucht endend, zulassen, dass dieses
Ablaufen sich ausruhe? Formen, gött-
liche und ewig dauernde, die ihr nur
auf das Ausruhen wartet, um wieder
zu erscheinen — o wann — in welcher
Nacht — in welchem Schweigen werdet
ihr euch wieder krystallisieren?

Das Paradies ist immer zu erneuen.
Aber es ist keineswegs auf irgendeinem
fernen Thule. Das Paradies ist unter
der Erscheinung. Jedes Ding begreift
in sich, wirkungskräftig, die innerste
Harmonie seines Wesens, wie jedes
Salzkorn, in sich, den Urtypus seines
Krystalls — und komme eine Zeit
schweigsamer Nacht, wo die Wasser
dichter herabfallen: in den unerschütter-
lichen Abgründen werden die geheimen
Salzmassen blühen

Alles müht sich nach seiner ver-
lorenen Form; sie erscheint, aber be-
schmutzt, schief und sich selbst nicht
befriedigend, da sie immer wieder be-
ginnt; gedrängt, gestoßen durch die
Formen der Nähe, deren jede sich
gleicherweise anstrengt, zu erscheinen
— denn Sein genügt nicht Man
muss sich beweisen — und der Stolz
bethört jede. Die Stunde, die vorüber-
geht, verwirrt alles.

Aber wie die Zeit nicht flieht, als
durch die Flucht der Dinge, hält sich
jedes Ding auf und krümmt sich, um
diesen Lauf ein wenig aufzuhalten und

besser erscheinen zu können. Es ist
dann eine Zeit, wo die Dinge lang-
samer geschehen, wo die Zeit ausruht
— glaubt man — Und wie mit der
Bewegung das Geräusch aufhört —
schweigt alles. Man wartet. Man begreift,
dass der Augenblick tragisch ist und
dass man sich nicht rühren darf. »Im
Himmel geschah ein Schweigen.«
Präludium der Apokalypse. — Ja,
tragische, tragische Epochen, da neue
Zeitläufte beginnen, wo Himmel und
Erde sich sammeln, wo das Buch mit
den sieben Siegeln sich öffnen will, wo
alles sich in ewigen Stellungen festigen
will Aber immer erhebt sich irgend-
ein ungestümes, verworrenes Geschrei
und vergeht.

Auf den auserwählten Höhen, auf
denen, glaubt man, die Zeit zu Ende
gehe — immer einige gierige Soldaten
die Kleider unter sich theilen und um
Tuniken würfeln — als die Ekstase die
heiligen Frauen unbeweglich macht,
der Vorhang zerreißt und die Geheim-
nisse des Tempels ausliefert; als die
ganze Schöpfung Christum endlich
betrachtet, der sich an das erhabene
Kreuz heftet und die letzten Worte
spricht: »Es ist vollbracht «

Und dann, nein! Alles ist neu
zu machen, ewig neu zu machen —
weil ein Würfelspieler mit seiner eitlen
Bewegung nicht einhielt, weil ein Soldat
eine Tunika gewinnen wollte, weil einer
nicht anschaute.

Denn der Fehler ist immer der
nämliche und verliert immer wieder
das Paradies. Das Individuum, das an
sich denkt, während das Leiden sich
anordnet und — ein stolzer Figurant
sich nicht unterordnete.*

* Die Wahrheiten bleiben hinter den symbolischen Formen. Jedes Phänomen ist
das Symbol einer Wahrheit. Seine einzige Pflicht ist, dass es sich offenbare. Seine einzige
Sünde: dass es sich vorzieht. Das ist, was ich sagen möchte. Ich werde mein ganzes Leben
darauf zurückkommen. Hier sehe ich die ganze Moral. Und ich glaube, dass alles darauf zurück-
führt. Ich will es hier nur angeben, in einer Note, ebensowohl fürchte ich, damit den engen
Rahmen dieses kleinen Tractats zu sprengen. Wir leben, um zu offenbaren. Die Regeln der
Moral und der Ästhetik sind dieselben: jedes Werk, das nicht offenbart, ist unnütz und damit
schlecht. Jeder Mensch, der nicht offenbart, ist unnütz und damit schlecht. (Wenn man sich
ein wenig erhebt, wird man dennoch sehen, dass alle offenbaren, aber man soll es erst nachher
erkennen.)

Alles, was eine Idee repräsentiert, versucht, sich der Idee vorzuziehen. Sich vorziehen,
das ist der Fehler. Der Künstler, der Gelehrte sollte sich der Wahrheit, die er sagen will,
nicht vorziehen. Das sei seine ganze Moral. Nicht das Wort, nicht die Phrase, die Idee, die
sie zeigen wollen. Ich sage fast, dies ist die ganze Ästhetik.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 144, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0144.html)