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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 148

Text

ZUM VERSTÄNDNIS DER PROJECTIONS-ERSCHEINUNGEN.
Von OTTO BRYK (Wien). I.

Ehe man darangehen will, das Zu-
standekommen eines Kunstwerkes und damit
auch das innere Wesen der Kunst selbst
näher zu untersuchen, muss man das
Vorhandensein eines primitiven Triebes
zur Darstellung des Empfundenen als
unabweisbare Grundthatsache annehmen.
Da nun die Empfindung — dem allge-
meinen Sprachgebrauche folgend — im
»Innern« entsteht, ihrem Inhalte nach aber
durch einen uns fast vollständig unbe-
kannten Process nach »außen«, in die
Welt der Objecte, verlegt wird, so ist
man berechtigt, diesen Vorgang ganz all-
gemein einen »Projections«-Vorgang zu
nennen, wenn man unter Projection das
Entwerfen eines in einem bestimmten
Raum-Element befindlichen Bildes von einem
»Projections«-Centrum aus auf ein zweites
gegebenes seiner Lage nach vom ersten
verschiedenes Raum-Element bezeichnet.

So kommt das die Anschauung ver-
mittelnde Bild auf der Netzhaut durch
einen Projections-Vorgang zustande, indem
— geometrisch gesprochen — vom opti-
schen Mittelpunkte der Linse aus, von
dem im Außenraum befindlichen Objecte
ein Bild auf ihr entworfen wird. Für den
ersten Augenblick scheint es, als ob dieser
Process kein reversibler sei; die optische
Energie der auf die percipierende Schichte
auffallenden Lichtwellen kann wohl (sei
dies auf photo-chemischem oder photo-
galvanischem Wege) jene moleculare Um-
lagerung in den Opticus-Zellen hervor-
rufen, welcher, wenn die betreffende
Reizung bis zum Gehirn fortgeleitet worden
ist, psycho-physisch das correspondierende
Anschauungsbild zugeordnet ist. Doch ist
es — exact physikalisch — nicht möglich,
sich vorzustellen, wie die vom Gehirn
aus eingeleitete, durch Anschauungs-, Vor-
stellungs- oder Phantasie-Thätigkeit bedingte

Reizung ein objectives Bild im Außen-
raume sollte hervorbringen können. Nun
ist allerdings ein objectives Bild im Sinne
der centrifugalen Reizung nicht zu erstellen;
wohl aber ein subjectives. Von patholo-
gischen Erscheinungen abgesehen, lehrt
die Naturgeschichte des Traumlebens das
Vorhandensein derartiger subjectiver
Netzhautbilder.

Im Sinne der geometrischen Definition
können die Traum-Erscheinungen und alles
Übrige in dieses Gebiet Gehörige aller-
dings nicht als Projections-Erscheinungen
bezeichnet werden, indem die Realität der
erzeugenden Bilder hinwegfällt. Im all-
gemeinen mathematischen Sinne jedoch
wird der projective Charakter derselben
angenommen werden dürfen, insoferne es
von diesem Standpunkte aus noch immer
gerechtfertigt bleibt, von einem Projec-
tions-Vorgang zu sprechen, wenn auch
bereits das Bild erzeugende Object und
das projicierende Centrum ins Imaginäre
verschwunden sind. Dann entspricht also,
wenn der Parallelismus in der Betrachtung
fortgeführt wird, dem imaginären Object
immerhin ein Correlat, dessen — transito-
rische — Realität für den Träumenden
feststeht. Das Projectionscentrum für diesen
Vorgang lässt sich auf keinem Wege nach-
weisen, und seine Existenz muss als Hypo-
these eingeführt werden.

In Momenten gesteigerter Sensibilität
wird der plastische Charakter derartiger
»imaginär-reeller« Bilder so intensiv, dass
ihr Eindruck auf lange Zeit hinaus im
Bewusstsein verbleibt, zum mindesten aber
so lange als nothwendig ist, dieses Bild
durch irgendein Ausdrucksmittel in der
reellen Außenwelt wieder zu erzeugen.
Man muss jedoch hier die physiologische
Fähigkeit zum Einleiten dieser Coordina-
tion und den Trieb, dieselbe zu bewerk-
stelligen, auseinanderhalten. Ein Wesen,
welches von dem Triebe erfüllt ist, Innen-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 148, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0148.html)