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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 149

Text

BRYK: ZUM VERSTÄNDNIS DER PROJECTIONS-ERSCHEINUNGEN.

bilder nach außen zu rufen, und die hiezu
erforderliche physiologische Organisation
aufweist, nennt man einen Künstler.

Da der physiologische Process, von
dem hier die Rede ist, verschlungen ist
mit dem Wesen des psycho-physischen
Parallelismus überhaupt und nichts anderes
ist, als der anders angeschaute psycho-
physische Parallelismus selbst, so ist es
unmöglich, hierüber noch mehr auszu-
sagen — man wollte denn ein Mysterium
durch ein anderes erklären. Anders steht
es mit der psychologischen Seite des
Problems: Hier, wo wir die Erscheinung
nur von einem Standpunkte aus betrachten,
sind Deutungen wohl erlaubt. Ob wir
uns als erkennende oder wollende Wesen
unmittelbar auffassen — sicher ist, dass
wir uns immer als ein und dasselbe Wesen
betrachten. Man muss sich also vergegen-
wärtigen: Die beiden Parallelreihen des
äußeren und inneren Geschehens und —
wenn es erlaubt ist, zu sagen — zwischen
beiden eine appercipierende Einheit, die
nach Kants großer Entdeckung die Wahr-
nehmung des Ablaufes der Geschehnisse
überhaupt erst ermöglicht. Dann lässt
es sich psychologisch erklären, weshalb
das Subject bemüht ist, Erscheinungen
durch ein sinnliches Mittel zu fixieren.
Es ist dies nach dem Gesagten der
Ausdruck einer ausgleichenden Tendenz,
welche dahin geht, das von der Zeit
Abhängige dem zeitlosen Wesen der er-
kennenden Einheit näherzubringen, d. h.
die Vorstellungswelt zu stabilisieren.

II.

Der einfachste Weg zur Fixierung des
flüchtigen Erscheinungsbildes besteht nun
wohl darin, das betreffende Object aus
einem Material herzustellen, welches im
Vergleiche zum Urbild viel dauerhafter
ist und hierdurch dem, der es geschaffen,
die Möglichkeit gewährt, durch längere
Zeit hindurch sich das Erinnerungsbild,
das ihm theuer gewesen, nachzuconstruieren.
Die bildnerische Kunst hat aus diesem
Grunde sich schon frühzeitig den mensch-
lichen Leib zum Vorwurfe genommen,
weil der Mensch die Flüchtigkeit seiner
äußeren Erscheinung am leichtesten wahr-

nimmt und dem Menschen im allgemeinen
ein Mensch am theuersten ist. Solange
aber nur rein persönliche Motive thätig
sind und eine Analyse dieses nachbilden-
den Triebes nicht stattfindet, ist es die
möglichst naturgetreue Wiedergabe ohne
jede formale Beeinflussung, die angestrebt
wird. Deshalb findet sich die polychrome
Plastik bei den niedersten Völkertypen.

Wie sich jedoch einmal eine auf das
Allgemeine eingerichtete Reflexion einstellt,
wird das Unzulängliche dieser Nachbildungs-
versuche erkannt. Es ist früher versucht
worden, zu zeigen, wie der Nachbildungs-
trieb hervorgeht aus einer psychischen
Ausgleichs-Tendenz, welche dahin zielt, die
Außenwelt dem innersten Selbst näherzu-
bringen. Ein nachgebildetes Object aber,
das sich von seinem Urbilde nur dadurch
unterscheidet, dass es von dauerhafterem
Material hergestellt worden ist, würde
keinen bedeutenden Fortschritt in diesem
Sinne bedeuten; gewonnen wäre dabei
nur so viel, dass es nicht so schnell ver-
schwände wie das Urbild. Das Erinnerungs-
bild, um dessen Fixierung es sich handelt,
ist nun entschieden von bedeutend gerin-
gerer Körperlichkeit, als das durch An-
schauung zustande gekommene. An der
Hervorbringung des Erinnerungsbildes ist
auch das Subject viel intensiver betheiligt,
als an dem Zustandekommen des An-
schauungsbildes, das sich sozusagen von
selbst einstellt. Copien dieser Erinnerungs-
bilder hervorzubringen ist uns also eine
viel wichtigere Aufgabe, als die Außen-
dinge einfach abzuspiegeln. Dies herzu-
stellen, die Plasticität abzuschwächen, das
projicierte Bild mit dem Charakter des
reproducierten Erinnerungsbildes in Über-
einstimmung zu bringen, stand dem
Künstler augenscheinlich nur ein Mittel
zur Verfügung: Unterdrückung bestimmter
Empfindungswerte.

Wie sich von diesem Augenblicke an
das echte künstlerische Schaffen einstellt,
so beginnt damit auch das eigentlich
complicierte der künstlerischen Production.
In dem Maße, als ein wesentlicher Em-
pfindungswert unterdrückt wird (Farbe,
Schall, Bewegungsform, Dimensionalität),
müssen die von diesen zunächst abhän-
genden wesentlichen Merkmale verwischt
werden; gleichzeitig aber ist dem Walten

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 149, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0149.html)