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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 158

Text

NOVALIS.*

Das Novalis-Centennar hat eine lange
Reihe von Studien und Essais über den
größten Romantiker zutage gefördert. Als
Beitrag zum Verständnisse der Novalis-
schen Werke kann man auch, trotz schwer-
wiegender Missverständnisse, vorliegende
Studie ansehen, die der Autor der
von ihm selbst besorgten Gesammt-
Ausgabe des Romantikers nachschickt.
Novalis war nie der typische Roman-
tiker, sondern er war von jener kos-
mischen Erotik durchglüht, die oft
großen Mystikern eine Productionskraft
verliehen hat, welche sich sonst unfrucht-
bar nach innen ergossen hätte. Er ver-
senkt sich wohl in das Wesen des Todes,
der Krankheit und des Schmerzes, aber
er hat hier mit den übrigen Roman-
tikern nur den äußeren Berührungspunkt
gemein. Was die übrigen in ihrer richtigen
Abweisung des Rationalistischen nur nach-
construieren konnten, war ihm Selbst-
erfahrung. Darum ist es für ihn bezeich-
nend, wie er Metaphysik aus den exacten
und biologischen Wissenschaften nachweist,
um sich hier in die Totalität der Erschei-
nungswelt zu versenken. So wird der
Ästhetiker zum Naturforscher und
Nachfolger des Giordano Bruno
.

Heute ist die Naturphilosophie, die
damals die Geister beherrschte, wieder
im Erwachen. Man erinnert sich wieder
der Systeme der Oken, Baaden, Brown,
Hemsterhuys und der anderen, die sich
bemühten, die ethische Deutung des
Mechanischen und Physiologischen bis
ins kleinste Detail auszudehnen. Bei Schel-
ling, in Goethes morphologischen Schriften
und in den Fragmenten des Novalis
erhebt sich die Naturphilosophie, gestützt
auf Algebra und Naturwissenschaft, zur

höchsten Höhe. Diese Einflüsse der geistigen
Bewegung um die Jahrhundertwende auf
den Entwicklungsgang des Novalis hat
Heilborn mit Verständnis aufgedeckt von
der Fichte’schen Identitätslehre bis zu
Browns »polarischer Physiologie«.

Viele dieser Aphorismen, darunter die,
welche das Verhältnis der Form zum
Stoff
— ein nur den Wenigsten zugäng-
liches Problem — behandeln, wirken wie die
Äußerungen einer neuen und vom bisherigen
Menschentypus differenzierten Gattung,
Äußerungen unendlich abgekürzter und ver-
stärkter Art. Dadurch dem Verständnisse des
früheren Typus entrückt, haben sie seinen
Vertretern zu allerlei unrichtigen Urtheilen
Anlass gegeben. Besonders hat Heine,
gänzlich unfähig, einen Novalis auch nur
im entferntesten zu begreifen, das Märchen
von dessen Schwindsucht und »träume-
rischer« Schwäche aufgebracht, und
es ist ihm bis auf unsere Tage von Un-
zähligen nachgebetet worden. Thatsäch-
lich — und es scheint Zeit, das ein-
mal festzustellen — ist das Gegentheil
der Fall. Wären diese — Vielschreiber im-
stande, zwischen der Wahrheit und der
Wirklichkeit zu unterscheiden, so müssten
sie einsehen, dass gerade Novalis der
wahren Realität am nächsten stand,
dass er das Leben gab, aber allerdings
nicht die Illusionen, die ihnen fälschlich
als solches erscheinen. Der frühe Tod des
Novalis war in diesem Sinne eine ver-
nichtende Katastrophe für die Cultur, die
erst durch das Auftreten Wagners theil-
weise wettgemacht wurde; von diesem
Tod datiert jener Riss zwischen Produc-
tion und Erkenntnis, dessen Folgen
das heutige Specialistenthum und anderer-
seits den Feuilletonismus gezüchtet haben.

* »Novalis, der Romantiker.« Von Ernst Heilborn. Verlag von Georg Reimer, Berlin. 1901.


Verantwortl. Redacteur: R. Dworschak. — K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 158, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0158.html)