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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 157

Text

BRIDIER: WIE VERSETZT MAN SICH IN DIE PERSÖNLICHKEIT EINES ANDEREN?

Hier kommt es darauf an, diese Hinder-
nisse entweder zu nehmen oder zu um-
gehen, indem man das Verfahren verein-
facht, dessen Anwendung erleichtert, und
womöglich dessen Tragweite verstärkt.

Nach hunderten von Experimenten ist
diese so sehr erwünschte Verbesserung
gefunden worden: sie besteht einfach
darin, dass man mit peinlichster Genauig-
keit — selbst jeder Befähigung zum
Zeichnen oder Nachahmen bar — alle
Schreibbewegungen des Urhebers wieder-
holt und nachbildet, ohne eine sonder-
lich gespannte Aufmerksamkeit daranzu-
wenden — mithin ein allgemein verständ-
liches und jedermann zugängliches Ver-
fahren.

Um dies zu erzielen, braucht man nur
die der Prüfung unterliegende Schrift vor
sich hinzubreiten, als gelte es, sie mit
Anmerkungen zu versehen. Sodann ver-
folge man mit der Spitze einer trockenen
Feder alle Züge der Schrift, genau so,
als handelte es sich darum, wirklich eine
Seite zu füllen; man schreibt so gewisser-
maßen aufs neue die Schrift, über die
man sich Klarheit verschaffen will.*

Hieraus ergibt sich eine so voll-
kommene und so tiefgehende Identification,
als sie überhaupt zu erzielen ist. Die Mimik
des Schreibers überträgt sich ohne jegliche
Abschwächung auf den Graphologen, und
zwar mit einer Genauigkeit, der die bloße

einfache, mithin stets unvollkommene und
lückenhafte Nachahmung nicht das Wasser
reicht.

Das wichtigste Resultat dieses Ver-
fahrens besteht natürlich in der möglichst
erschöpfenden Anpassung des Schriftdeuters
an den Urheber des Schriftstückes; außer-
dem aber weist diese Methode noch
mehrere nicht unerhebliche Vorzüge auf:
so wird man sich durch dies Nachschreiben
mancher geringfügiger Einzelheiten be-
wusst, welche dem Blicke und selbst dem
Vergrößerungsglase entgehen; nur die
geduldig nachschreibende Feder ist im-
stande, sie dem Graphologen kenntlich zu
machen. So wie es hier oben beschrieben
wird, bildet dies Verfahren zur Zeit das
beste Mittel, um sich in die Individualität
eines Anderen hineinzuversetzen und sich
am eigenen Leibe des Widerhalles frem-
der seelischer Zustände bewusst zu werden,
indem man das Leben der fremden Schrift-
zeichen an sich erlebt.

Also erprobt und gewürdigt, ist dies
Verfahren wohl dazu angethan, die Be-
achtung jedes gewissenhaften Graphologen
zu gewinnen. Bildet es doch eine der
wichtigsten Operationen, ja vielmehr die
Hauptgrundlage, das Α und das Ω einer
jeden graphologischen Analyse. Denn so
versetzt sich der Schriftdeuter in die
Persönlichkeit seines Nächsten.

* Aus meiner Erprobung dieser genialen Idee sei hier eine kleine Lücke der Gebrauchs-
anweisung ausgefüllt.

Um wirklich in unserem Bewusstsein den Widerhall der fremden seelischen Schwingungen
zu spüren, ist es von höchster Wichtigkeit, auf die Strichbreite des Originals zu achten und sie
mittelst größeren oder geringeren Druckes zu reproducieren. Daran lernen wir die virtuelle
Energie des Schreibers ermessen. Bequemen wir nun auch unser Tempo dem der fremden
Hand an, so wird uns Aufklärung über die Stärke des Thätigkeitstriebes. (Anm. d. Übers.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 7, S. 157, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-07_n0157.html)