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cation, eine Verschmelzung mit der anderen
Persönlichkeit, und zwar umso vollkom-
mener, als die Nachahmung des fremden
Ausdruckes an Gründlichkeit und Ver-
tiefung zunimmt.
Anknüpfend an diese Gedankenreihe
sei Campanella erwähnt (und andere Diplo-
maten), welcher das Mienenspiel derjenigen
nachahmte, deren Ergründung ihm am
Herzen lag.
Gutes und böses Beispiel, Angewohn-
heiten, verschiedene Gebiete des Snobismus,
gewisse nervöse Krankheiten, einschließ-
lich der sich jedermann aufdrängenden Noth-
wendigkeit, die Bewegungen nachzuahmen,
die sich häufig seiner Wahrnehmung auf-
drängen: dies alles sind ebensoviele
Postulate der Sympathie oder der psycho-
motorischen Induction.
V.
Das mich am ersprießlichsten dünkende
Verfahren, um sich in das Seelenleben
und den Gemüthszustand eines Schreibers
zu versetzen, schreibt sich ebenfalls vom
selben Gesetze psychomotorischer Induction
her; es beruht auf den Beziehungen von
Mienenspiel, Geberde und Körperhaltung
zu denjenigen Bewusstseinszuständen, die
ihnen complementär sind, wie Roth zu
Grün und Grün zu Roth. Aus dem Studium
oberwähnter oder analoger Thatsachen
entstand sonder Zweifel dies Verfahren,
bevor es noch auf die praktische Grapho-
logie Anwendung fand. Doch ist es
keineswegs aus einer Verallgemeinerung
der dem Telephon zugrunde liegenden
Gesetze entsprungen, wie ein sich nicht
klar davon Rechenschaft gebender Schrift-
steller irrthürmlich behauptet hat.
Für den Schriftdeuter gipfelt dies Ver-
fahren einzig und allein in dem Bestreben,
seine Persönlichkeit derjenigen des Ur-
hebers (Verfassers) eines zu ergründenden
Schriftstückes gleichsam zu unterschieben
vermittelst einer möglichst gleichartigen
schriftlichen Mimik. Die Voruntersuchung,
die mit bloßem Auge oder unter Beihilfe
der Lupe stattgefunden, setzt sich zum
Ziel, gewissermaßen das Maß des Schrei-
bers zu nehmen und sich klar zu werden
über den Grad der Leichtigkeit, mit dem
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die Anpassung, die Identification ins Werk
gesetzt werden kann; eine genaue Zer-
gliederung der Schrift verstärkt augen-
scheinlich den auf den Graphologen hervor-
gebrachten Eindruck. — Doch dies genügt
nicht, wo es sich darum handelt, diesen
Eindruck möglichst intensiv und concret
zu gestalten, um in die Bewusstseins-Tiefen
hinabzusteigen.
Häufig gelangt man hiezu mit Leichtig-
keit, indem man, wie Crépieux-Janun dies
zu wiederholtenmalen gethan hat, mit der
Geduld eines Fälschers die zu ergründende
Schrift, zumindest in ihren wesentlichen
Grundzügen, nachahmt.
Bei jedem Experiment, fährt Crépieux-
Janun fort, befrage man sich gewissenhaft,
welchen Widerhall die schriftliche Geberde
innerhalb unseres Bewusstseins auf unser
Nervensystem ausübt. Gelangt man dazu,
einen oder zwei der hervorgerufenen
Bewusstseinszustände zu erfassen und zu
bestimmen, so ist man zu einer befriedi-
genden Antwort gelangt, es ist uns ge-
lungen, uns in die Haut des lieben Näch-
sten zu versetzen.
VI.
Dies ist, in des Wortes verwegenster
Bedeutung, eine graphologische Auto-
suggestion, welcher der Graphologe nicht
entrathen kann, so oft er sich vor eine
Schrift gestellt sieht, die einer ihm nicht
vertrauten Kategorie von Schreibern ange-
hört. Ebenso zweckdienlich wird dies
Nachmalen der Schriftzüge sich erweisen,
wenn er im Verlauf eines Gutachtens vor
Gericht oder in einer graphologischen
Analyse mit irgendeiner schwierigen
Deutung zu ringen hat.
Im obigen Paragraphen ist die prak-
tische Anwendung des betreffenden Ver-
fahrens enthalten und klar und bündig
ausgesprochen. Aber es will uns ein-
leuchten, dass nicht einem jeden die hiezu
erforderliche Dosis Geduld zu Gebote
steht. Desgleichen gehört dazu eine ge-
wisse Veranlagung zu passiver Nach-
ahmung, vielleicht sogar eine ganz be-
sondere Begabung, Fähigkeiten, wie man
sie bei guten Kunststechern antrifft: Wissen-
schaft, Übung, Routine, deren Aneignung
mit vielen Schwierigkeiten verknüpft ist.
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