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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 166

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MAETERLINCK: DER GEIST DER BIENEN.

weniger unentbehrliches Nahrungsmittel
als der Honig. Dieses Bedürfnis muss
man sich gegenwärtig halten, will man
den Geist der Gesetze des Bienenstaates
erfassen. Das Individuum gilt im
Bienenstock nichts, es hat nur ein
secundäres Dasein, es ist gleichsam
ein nebensächlicher Factor, ein ge-
flügeltes Organ der Gattung. Sein
ganzes Leben ist eine vollständige
Aufopferung für das unzählige, be-
harrende Wesen, zu dem es gehört.
Sonderbarerweise lässt sich feststellen,
dass dies nicht immer so war. Man
findet auch heute noch unter den Honig-
wespen alle Stadien der schrittweisen
Entwicklung unserer Hausbiene vor.
Auf der untersten Stufe steht, sie allein
im Elend, oft erlebt sie nicht einmal
ihre Nachkommenschaft (wie bei den
Forst- und Hügelbienen), bisweilen lebt
sie in kleinen Familien mit ihrer Brut
(wie bei den Hummeln), vereinigt sich
dann vorübergehend zu Gesellschaften
(Grabbienen, Hosenbienen, Ballenbienen)
und erreicht schließlich, von Stufe zu
Stufe steigend, die nahezu vollkommene
Gesellschaftsform unserer Bienenstöcke,
wo das Individuum vollständig in der
Gesammtheit aufgeht und die Gesammt-
heit wiederum der abstracten, unsterb-
lichen Gesellschaft der Zukunft ge-
opfert wird.

VIII.

Hüten wir uns, aus diesen That-
sachen voreilige Schlüsse auf den
Menschen zu ziehen. Der Mensch hat
das Vermögen, sich den Naturgesetzen
nicht zu fügen. Ob es Recht oder
Unrecht ist, von diesem Vermögen
Gebrauch zu machen, das ist der
wichtigste, aber auch der unaufge-
klärteste Punkt unserer Moral. In-

zwischen ist es nicht belanglos, den
Willen der Natur in einer anders ge-
arteten Welt zu belauschen, und gerade
bei den Honigwespen, die nächst dem
Menschen unzweifelhaft die intelligen-
testen Bewohner dieses Erdballes
sind, tritt dieser Wille sehr deutlich
zutage. Er trachtet sichtlich nach Ver-
edlung der Art, aber er zeigt auch,
dass er diese nur auf Kosten der
individuellen Freiheit und des indivi-
duellen Glückes erreichen will oder
kann. In dem Maße, wie die Gesell-
schaft sich organisiert und erhebt, wird
dem Sonderleben eines jeden ihrer
Glieder ein immer engerer Kreis ge-
zogen. Wo ein Fortschritt eintritt, ge-
schieht dies durch ein immer vollkom-
menes Opfer der persönlichen oder allge-
meinen Interessen. Zunächst muss ein
jedes Individuum auf eigenmächtige
Laster verzichten. So findet man auf
der vorletzten Culturstufe der Bienen
die Hummeln, die unseren Menschen-
fressern zu vergleichen sind; die aus-
gewachsenen Arbeiterinnen stellen näm-
lich unaufhörlich den Eiern nach, um
sie zu fressen, und die Mutter muss
sie mit aller Energie dagegen verthei-
digen. Ferner muss sich jedes Indivi-
duum, nachdem es die gefährlichsten
Laster abgelegt hat, eine Anzahl von
immer strenger gefassten Tugenden zu
eigen machen. Die Arbeiterinnen bei
den Hummeln lassen es sich z. B. noch
nicht einfallen, der Liebe zu entsagen,
während unsere Hausbiene in unbe-
dingter Keuschheit lebt. Nun, wir
werden ja bald sehen, was sie alles in
Tausch gibt für das Wohlbefinden,
die Sicherheit, die architektonische, öko-
nomische und politische Vollkommen-
heit des Bienenstockes, und wir kommen
auf den Entwicklungsgang der Honig-
wespen in dem Capitel über den »Fort-
schritt der Art« noch einmal zurück.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 166, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0166.html)