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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 165

Text

MAETERLINCK: DER GEIST DER BIENEN.
VII.

Der Laie pflegt zuerst einigermaßen
enttäuscht zu sein, wenn man ihm
Einblick in einen Beobachtungskasten
gewährt.*

Man hatte ihm versprochen, dass
dieser Glaskasten ein ungeheures Maß
von Thatkraft, eine Unzahl von weisen
Gesetzen, eine erstaunliche Fülle von
Geist, Mysterien, Erfahrungen, Wissen
und Gewerbefleiß der verschiedensten
Art, weise Voraussichten, Berechnungen,
Gewissheiten und Gewohnheiten voller
Klugheit und eine Menge von seltsamen
Tugenden und Gefühlen enthielte.
Und nun erblickt er nur ein Gekribbel
von röthlichen Beeren, die wie geröstete
Kaffeebohnen aussehen, oder wie
Rosinen, die massenhaft an den Scheiben
sitzen. Sie scheinen mehr todt als lebendig
und ihre Bewegungen sind langsam,
unzusammenhängend und unverständ-
lich. Er erkennt die herrlichen Licht-
tropfen nicht wieder, die noch eben
ohne Unterlass in den gold- und perlen-
schimmernden Schoß von tausend geöff-
neten Blumenkelchen hinabtauchten und
wieder hervorkamen. Sie zittern an-
scheinend in der Finsternis. Sie er-
sticken in einer unbeweglichen Menge:
man möchte sagen, sie sind wie kranke
Gefangene oder entthronte Königinnen,
die nur einen glänzenden Augenblick
unter den leuchtenden Blumen des
Gartens leben, um alsbald in das scheuß-
liche Elend ihres armseligen, engen
Kerkers zurückzukehren.

Es ist mit ihnen, wie mit allen
tiefen Realitäten. Man muss sie beob-
achten lernen. Wenn ein Bewohner
einer anderen Welt sähe, wie die
Menschen durch die Straßen gehen,
wie sie sich um einzelne Gebäude oder
auf gewissen Plätzen zusammendrängen,
wie sie ohne auffällige Geberde in

ihren Wohnungen sitzen und harren,
so würde er auch zu dem Schlusse
kommen, dass sie träge und bedauerns-
wert sind. Mit der Zeit erst beginnt
man die vielseitige Thätigkeit, die in
dieser Trägheit liegt, zu erkennen.

In Wahrheit arbeitet jede dieser
fast unbeweglichen kleinen Beeren un-
ermüdlich, und jede thut etwas anderes.
Keine kennt die Ruhe, und gerade die
z. B., welche scheinbar eingeschlafen
sind und wie leblose Trauben an den
Scheiben hängen, haben die geheimnis-
vollste und ermüdendste Arbeit zu ver-
richten, sie bereiten das Wachs. Aber
wir werden auf diese Einzelheiten ihrer
streng getheilten Thätigkeit bald näher
eingehen. Inzwischen genügt es, die
Aufmerksamkeit auf den Hauptcharakter-
zug der Bienen zu lenken, wodurch
sich das enge Beieinandersitzen in
dieser mannigfachen Thätigkeit er-
klärt. Die Biene ist vor allem und
mehr noch als die Ameise ein Gesell-
schaftsthier, sie kann nur zu vielen
leben. Wenn sie aus dem dichtbesetzten
Stocke ausfliegt, muss sie sich mit
dem Kopfe einen Weg durch die
lebenden Mauern bahnen, die sie um-
schließen, und verlässt damit ihr eigent-
liches Element. Sie taucht einen Augen-
blick in den blumenreichen Raum, wie
der Schwimmer in den perlenreichen
Ocean, aber sie muss, wenn ihr das
Leben lieb ist, von Zeit zu Zeit wieder
in den Dunstkreis ihrer Gefährtinnen,
zurück, wie der Schwimmer wieder
auftaucht, um Luft zu schöpfen. Bleibt
sie allein, so geht sie auch bei den
günstigsten Temperaturverhältnissen
und dem größten Blumenreichthum in
wenigen Stunden zugrunde, nicht in-
folge von Hunger oder Kälte, sondern
vor Einsamkeit. Die Menge ihrer
Schwestern, der Bienenstock, ist für
sie ein zwar unsichtbares, aber nicht

* Ein Beobachtungskasten ist eine Bienenwohnung mit Glaswänden, die mit schwarzen
Vorhängen oder Holzläden verschlossen wird. Am besten sind die, welche nur eine Wabe
enthalten, weil man sie dann auf beiden Seiten beobachten kann. Georges de Layens gibt
in seinem »Cours complet d’agriculture« ein ausgezeichnetes Musterbild eines solchen (S. 291).
Siehe auch Dadant: »Petit cours d’agriculture«, S. 85 ff. Diese Kästen lassen sich ohne weitere
Umstände und Gefahren in einem Zimmer oder einer Bibliothek aufstellen, wenn die Bienen
nur herauskönnen. Die Bienen des Beobachtungskastens, den ich in meinem Arbeitszimmer
in Paris stehen habe, tragen selbst in der Steinwüste der Großstadt genug ein, um sich zu
ernähren und fortzupflanzen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 165, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0165.html)