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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 168

Text

ÜBER DEN MODERNEN HOLZSCHNITT.
Von EMIL RUDOLF WEISS (Baden Baden).

Der Holzschnitt ist eines der syn-
thetischesten Ausdrucksmittel des bilden-
den Künstlers. Er ist sicherlich die syn-
thetischeste der graphischen Techniken.
Hat man dies erkannt, so wird es alsbald
klar, warum es so unverhältnismäßig
viel schlechte und so wenig gute Holz-
schnitte gibt. Denn wer weiß heute noch,
was Synthese ist? Selbst unter den
Künstlern? — Man kann sagen, die
Synthese ist selten wie der voll-
kommene, reine und unerschütterliche
Glaube an Gott oder — an sich selbst
— oder wie das tiefe Bewusstsein einer
anderen, als der körperlichen Existenz,
oder das innerste Fühlen des Zusammen-
hanges mit dem Universum, oder die
völlig selbstlose Liebe zwischen Mann
und Weib, oder jeder wahre Mensch.
Nichts ist seltener. Es gibt heute Publi-
cum, Einwohner, Leute, aber keine
Menschen. — Ich muss davon reden,
bevor ich das sage, was ich vom Holz-
schnitt sagen will. Ich kann den Menschen
vom Künstler nicht trennen. Und ich
mache für die traurigen Leistungen der
Leute, die alle sich Künstler nennen,
ihr Menschsein verantwortlich.

Ich erinnere mich sehr gut, aus
welchen Anfängen ich und einige An-
dere zum Holzschnitt kamen. Wir kamen
von der Radierung. Wir wollten auf
der Kupferplatte breite Striche und ge-
schlossene Flächen erreichen. Dies war
entgegengesetzt den Gesetzen und dem
Geist der Radierung, deren Leben das
Licht und seine Darstellung ist. Es
war unser Entzücken, als wir ein Ver-
fahren entdeckt hatten, das uns in jener
Hinsicht einigermaßen befriedigte. Ra-
dierungen, wie ich sie fühle, nachdem
ich das Wesen der Radierung erkannt
habe, waren es nicht. Es waren Schritte
zum Holzschnitt.

Damals kamen uns die ersten Holz-
schnitte aus dem Ausland zu Gesicht.
Es war dies um die stürmische Zeit
anfangs der Neunzigerjahre, als überall
der »Kampf um die neue Kunst« tobte.
— Einer dieser Fremden war Felix
Vallotton. Er gab uns Manches. Wir
hatten manche Freude an seinen Arbeiten
und lernten Einiges von ihm, soviel,
wie für den Menschen das erste Gehen-
lernen des Kindes bedeutet. Das ist zu-
gegeben. — Vallotton hat Sinn für den
Raum. Er ist decorativ, wie alle wirk-
liche Kunst, die ihre reinen und
nicht von einem Zweck der Dar-
stellung misshandelten Elemente
,
(Farben-) Fleck und Linie erkannt
hat
. Er ist ein Synthetiker der Er-
scheinung, aber auch nur das. Dies ist
aber schon sehr viel. Die meisten haben
nicht einmal davon eine Ahnung.
Er hat die Ausdrucksmittel des Holz-
schnittes erkannt und einige wirklich
schöne Sachen gemacht, besonders unter
den ganz kleinen Platten (»Die Baden-
den« z. B.), aber dieser guten Platten
sind es sehr wenige. Er hat eine Masse
directen Schund gemacht. Er hat Ge-
schmack, aber das langt nicht. Ich
pfeife auf den Geschmack. Der geht so
nebenher, wie der mindeste Anstand
unter Mensch und Mensch. Dem Werk,
das Meier-Graefe über Vallotton publi-
ciert hat und das einen guten Theil
seines Oeuvre enthält, könnte eine gründ-
liche Durchsiebung nur nützen. Es
sind Porträts darin, die Vallotton nach
Photographien gemacht hat, die an
Ärmlichkeit nicht zu übertreffen sind.
Sie sind direct dumm. Man denke an
seinen Wagner!! Vallotton hat es fertig
gebracht, ein Porträt von Verlaine nach
einer Photographie zu machen, von
Verlaine, der eine Viertelstunde von
ihm wohnte! Es ist auch darnach. Es
scheint, dass Vallotton zu seinem Scha-
den, wie manch Anderer, der Versuchung

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 168, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0168.html)