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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 187

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RUNDSCHAU.

sätzen erklingt alles dann von selbst
nach dem Willen des Schöpfers. Ähnlich
ist es bei den Händel’schen Chören, aus
denen die strömende Urkraft auch dann
quillt, wenn die Sänger ohne brutale For-
cierung das Thema aufnehmen. — In
diesem Sinne muss der würdigen Form,
in der sich der Chor seiner schwierigen,
die höchsten Anforderungen an musika-
lische Technik und Stimmkraft stellenden
Aufgabe entledigte, rühmend gedacht
werden.

Die Solisten hingegen, denen dasPubli-
cum — wie stets — größere Aufmerk-
samkeit schenkte, konnten, mit einer
Ausnahme, nicht recht befriedigen. — In
der Arie gelangt das Specifisch-Melodische,
im Gegensatze zu dem in sich polyphon
gedachten Bau der Chöre, wieder zur
Oberfläche — allerdings versteckt und
schüchtern, von den Ripien-Stimmen sich
hin und wieder zur Solo-Stimme schlin-
gend. Deshalb erfordert der Vortrag dieser
Arien auch das liebevolle Eindringen in
den Orchester-Satz, und nicht bloß die
concertierende Recitation mit individueller
Färbung. Von dieser Forderung schien
eigentlich nur die Solo-Altistin* Kenntnis
zu haben: Ihr Gesang war eine einzige,
reine, tönende Linie, der ausdrucksvolle
Klang eines lebenden, athmenden »Vox-
humana
«-Registers — bald dominierend
im freien Melisma, bald hingebend in den
Nebenstimmen sich verlierend. Dies ist
ernste Vortragskunst im Geiste des Meisters,
ohne Mätzchen, schlicht und ernst, ohne
Concessionen.

Die Instrumentation der Original-Partitur
hatte man beibehalten. So konnte man die
selten gehörte Oboë d’amore vernehmen,
und die bekannten hohen Trompeten, die

im brausenden Jubel des »Resurrexit« das
Thema dem Chor entreißen und hoch in
die Luft schmettern. Das Publicum nahm
diese mit so primitiven Mitteln erzielte
Pracht dankbar auf, — schien die Fülle
dieses Glanzes aber nicht begreifen oder
aus der »dogmatischen« Natur Bachs sich
nicht erklären zu können. BRYK.

Gerhard Munthe. Seine Wand-
teppiche (vergl. S. 167) lassen sich aus
der culturellen Tradition des Landes Nor-
wegen begreifen, dem der Künstler ent-
stammt.

Mit einer Technik, deren vollendete
Naivität den Halb-»Gebildeten« wie
»Raffinement« berühren muss, werden
da altnordische Ornamente und heimat-
liche Motive (die man in der Bilder-
weberei des zwölften und dreizehnten
Jahrhunderts und in den mittelalterlichen
Chroniken finden kann) weiterentwickelt
und mit wahrhaft modernem Empfinden
durchgeführt. Dass die Webetechnik an
sich (Gobelin) eine bestimmte Stilisierung
verlangt, ist hinlänglich bekannt. Die
ornamentale Behandlung der Formen, die
nur das Wesentlichste geben will, das
streng Archaistische, das hinzutritt, und
die Mystik der Vorwürfe — wirkt zu-
sammen, um eine Einheit zu schaffen,
die in scheinbarer Starre die intensivste
rhythmische Bewegtheit gibt. Munthes
Gobelins sind von ungewöhnlichen Dimen-
sionen und grellen Farben. Das Verdienst,
die künstlerische Bilderweberei derart ver-
vollkommnet zu haben, gebürt der be-
rühmten Anstalt »Det norske Billedväveri«
in Christiania, die von Frieda Hansen
geleitet wird.

* Frl. E. Walker.

Der Schluss des Artikels von Otto Bryk »Zum Verständnis der Projections-Erscheinungen«
erscheint in nächster Nummer.


Verantwortl. Redacteur: R. Dworschak — K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 187, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0187.html)