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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 186

Text

RUNDSCHAU.

Mallarmé wird in der Geschichte des
neunzehnten Jahrhunderts, in der seine
starke Eigenart und sein außergewöhn-
liches Bemühen ihm einen bestimmten
Platz sichern, als ein Essayist, philo-
sophischer Dichter und Ästhetiker er-
scheinen, der sich aus diesen ver-
schiedenen Titeln eine merkwürdige
Gestalt schuf, die sich mit keiner än-
dern vergleichen lässt. Er hat den Ver-
such gemacht, aus der absoluten In-
tellectualität eine für jeden menschlichen
Ausdrucksmodus ausreichende Wurzel zu
schaffen und den Kunst-Individualismus
mit dem Mysticismus eng zu verbinden.
Sehr Wenige haben diese Richtung ein-
geschlagen; nach ihm wird man sie
vielleicht nicht mehr einschlagen; doch
wenn man es thut, so wird man un-
möglich weitergehen, als er; auch
wird man an seinen Endzielen vor-
über müssen, weil er etwas Absolutes,
etwas Stabiles, etwas keck Zusammen-
hängendes errichtet hat. Er besitzt den

Charakter des Systembegründers, die
Fusion der reinen Vernunft mit der
praktischen Vernunft, die Fähigkeit,
sich in der Abstraction ebenso leicht
zu bewegen, wie im Leben; dabei hörte
er nie auf, er selbst zu bleiben und be-
wahrte stets dieselbe Haltung und Ein-
fachheit. Er besaß das hervorstechende
Charakteristicum der Mystiker, das
gleichmäßige und unbestimmte Licht,
das gleichzeitig Schleier und Enthüllung
ist, das auf seinen Schriften, wie
auch auf seiner Persönlichkeit lag, die
moralische Unantastbarkeit der reinen,
contemplativen Geister. Es ist daher
nur richtig, wenn man das Publicum
darauf aufmerksam macht — denn
die Schriftsteller wissen es ja schon
— dass wir mit Stephan Mallarmé den
Vorläufer eines großen Werkes und
eine der edelsten Gestalten verloren
haben, die der Literatur zur Ehre ge-
reichten.

RUNDSCHAU.

Die H-moll-Messe, jenes Werk,
in dem Bach die höchste Stufe seiner un-
endlichen polyphon-metismatischen Kunst
erreicht, erklang seit langer Zeit wieder
einmal im großen Musikvereins-Saale.

Die Aufführung gestaltete sich der
hohen Aufgabe würdig. Ein Orchester von
Künstlern, das genug Takt besitzt, dem
discreten Charakter der Instrumental-Musik
aus der Zeit vor dem Entstehen der
symphonischen Form treu zu bleiben; ein
mächtiger, klang-gewaltiger Chor mit
frischen, klingenden Registern, ein Dirigent,
der wenig interpretiert und dem Compo-
nisten das Wort lässt. Hiezu ein Publicum,
das den Eindruck — aus welchen Gründen,
ist einerlei — nur selten durch unnöthigen
Beifall abschwächt.

Im allgemeinen traten die Theile, in
denen sich die streng-gebundene Produc-
tivität Bachs zum blendenden, sinnlichen
Glanze steigert, mehr in den Vordergrund,
als die, von der Form nur getragenen,

über ihr bergehoch schwebenden, rein
mystischen Stellen. Andererseits traten die
Bässe in den »rollenden« Fugen viel zu
wenig schneidend hervor, wodurch ein
Effect verrückt wurde, den Bach selbst
liebte und pflegte; während wieder das
»Crucifixus« mit seiner düster abwärts
ziehenden, das »Incarnatus« mit seiner
träumerisch das Thema umrankenden
Centimo-Figur eine Meisterleistung bildeten.

Für den Chor in den Bach’schen
Oratorien gilt es thatsächlich, sich an
nichts anderes, als die Notenköpfe zu
halten, und nichts Dramatisches in die
Stimme zu legen. Die Bach’sche Stimm-
führung ist nicht die Mozart’sche. Eine
Stimme ist hier für sich nichts anderes
als eine Tonfolge, die contrapunktiert
wird, diminuiert, augmentiert, umge-
kehrt oder »verändert«. Sie besitzt
keine individuelle Daseinsberechtigung.
In fünf-, sechs- oder achtstimmigen
Bündel mit den fest markierten Ein-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 8, S. 186, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-08_n0186.html)