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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 201

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SCHMITT: HERBERT SPENCERS SYNTHETISCHE PHILOSOPHIE.

ja oft mit Aufopferung des Lebens voll-
zogen werden — und nur solche uninter-
essierte Handlungen sind sittlich — können
vom Standpunkte der im Kampfe ums
Dasein sich selbst erhaltenden Individuen
nicht erklärt werden. Huxley hat daher
den Versuch gemacht, solche Handlungen
durch die Nützlichkeit derselben für die
Erhaltung der Körperschaften zu erklären,
in denen sich die Individuen verbinden.
Nun zertreten aber allerdings diese Körper-
schaften, deren höchste der Staat ist, in
erbarmungsloser Weise die Individuen, die
der Erhaltung der Corporation gefährlich
erscheinen, und sind die Soldaten, Polizisten,
Henker, die Kriege, Hinrichtungen u. dgl.,
sowie die Menge rechtlicher Institutionen
der Erhaltung des Staates als Körperschaft
gewiss ebenso nützlich, wie die Religions-
kriege und die Inquisition der Erhaltung
der hierarchischen Weltherrschaft des
Mittelalters nützlich waren, obschon diese
schönen Dinge gewiss mit der Sittlichkeit
nichts zu schaffen haben. Welche entsetz-
lich widersittliche Ideen in ganz richtiger
politischer Einsicht von Kirche und Staat
geheiligt werden, habe ich in meiner
Schrift »Die Culturbedingungen der christ-
lichen Dogmen und unsere Zeit« (Leipzig
1901, E. Diederichs) ausgeführt. — Spencer
ist ferner »der Ansicht, dass die Ent-

wicklung des Geistes durch gehäufte und
vererbte Wirkungen der Erfahrungen zu
dauernden und universellen moralischen
Gefühlen führe« (S. 360). Es ist aber
Thatsache der geschichtlichen Entwicklung,
dass sich jeder Fortschritt in dem sittlichen
Bewusstsein nur im Kampfe und im uner-
bittlichen Gegensatze gegen die Mächte der
Gewohnheit, der Gemeinsitte, der Tradition
durchgesetzt hat und dass die großen Körper-
schaften eben im richtigen Instincte ihrer
Selbsterhaltung, die stets nur die Be-
deutung der Erhaltung der alten Barbarei
hatte und auch heute noch hat, die Helden
des Ethos, die Vorkämpfer einer edleren
Sittlichkeit stets unerbittlich verfolgt haben.
Diese Mächte haben Sokrates den Gift-
becher gereicht und Giordano Bruno auf
den Scheiterhaufen geschleppt, sie haben
Christus an das Kreuz geheftet.

Aus diesen Mächten mechanischer Ge-
wohnheit und den Körperschaften, in denen
sich ihre Formen consolidieren, lässt sich
nicht die geringste sittliche Regung er-
klären. So lässt sich denn auch von der
mechanistischen Weltanschauung, die sich
nothwendig zu einer Huldigung für diese
Mächte verstehen muss, die Lösung des
Welträthsels ebensowenig erwarten, wie
die Anbahnung einer edleren Cultur der
Zukunft.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 201, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0201.html)