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Organischen erscheint, auf das Princip des
einfachen Mechanismus sinnlich-endlicher
Functionsmomente zurückzuführen oder
aus diesen aufzubauen.
Indem aber die Naturforschung fest-
gestellt hat, dass die Form-Elemente der
Keimstoffe der Organismen (schon die bei
der Bildung der befruchteten Keimzelle
sich chaotisch auflösenden Zellenkerne und
dann die aus der nun erfolgenden Zellen-
theilung sich bildenden Zellen) völlig in-
different sind in Bezug auf jede Form-
bildung, so konnte man die Vererbung,
die doch einen ungeheuren Reichthum
von Formen, eben vermittels der Keim-
stoffe, von Geschlecht zu Geschlecht über-
tragen und durch zahllose Geschlechter
erhalten sollte, von diesem mechanistischen
Standpunkte aus nicht anders erklären, als
indem man alle diese Formen irgendwie
vorgebildet sich vorstellte in jedem ein-
zelnen der unbeschreiblich feinen, keinem
Mikroskop zugänglichen, sozusagen molecu-
laren Form-Elemente der Keimstoffe, die
Spencer als »physiologische Einheiten«
hypostasiert. »Obgleich alle Theile« (sagt
Spencer daher in der vorliegenden Schrift,
S. 116) »aus physiologischen Einheiten
der nämlichen Wesenheit zusammengesetzt
sind, so verbinden sich doch, kraft der
localen Bedingungen und der Einflüsse
ihrer Nachbarn, die Einheiten zur Bildung
der besonderen, dem Orte entsprechenden
Structur. Aber wie ungeheuer compliciert
müssen die Einheiten sein, welche sich
so verhalten können, wird der Leser
bemerken. Um imstande zu sein, alle
Leistungen auszuführen als Glieder des
Ganzen und als Glieder dieses oder jenes
Organismus, müssen sie eine nicht vor-
stellbare Mannigfaltigkeit von Möglich-
keiten in ihrer Wesenheit besitzen. Eine
jede muss in der That beinahe ein
Mikrokosmus innerhalb eines Mikrokos-
mos sein. Zweifellos ist es richtig.«
— Es müssen also die molecularen
Form-Elemente nicht bloß die Grundzüge
der ungeheuer reichen Formen höherer
Organismen (das menschliche Gehirn allein
zählt über eine Million Zellen in den
verschiedensten Functionen!) in sich bergen,
sondern außerdem auch noch die Formen
zahlloser Generationen, wie wir denn
wissen, dass individuelle leibliche und
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seelische Eigentümlichkeiten sich durch
lange Reihen von Generationen vererben.
Man muss gestehen, dass ein starker
Glaube an das mechanistische Dogma
dazu nöthig ist, um diese Ungeheuerlich-
keit als »positive Wissenschaft« erscheinen
zu lassen, gewiss nicht weniger, als dazu
nöthig war, um die mittelalterliche, theo-
logische These zu glauben, dass so und so-
viel Legionen Engel auf einer Nadelspitze
zu tanzen vermögen. Es erinnert diese
mechanistische Metaphysik, die meinte,
das Weltall im ganzen Reichthum seiner
Gestaltungen auf ein einfaches Princip
zurückzuführen, in der völlig sinnlosen
Complication ihrer Constructionen lebhaft
an das ptolemäische System der Astronomie,
welches mit dem wachsenden Material
der Beobachtungen zur Annahme immer
neuer Sphären und Epicyklen gedrängt
war und schließlich unter der Last einer
immer unwahrscheinlicher werdenden Com-
plication kläglich zusammenbrach. Den Ver-
treter dieses mechanistisch-ptolemäischen
Systems der Erklärung der Organismen
beschleicht daher auch begreiflicherweise
das Gefühl der Unhaltbarkeit seiner Con-
structionen, und Spencer gesteht denn auch
an derselben Stelle in Bezug auf alle die
mechanistischen Erklärungsversuche, die
Darwin, Weißmann und er selbst gemacht,
zu, »dass keine von diesen Hypothesen
dahin führt, die Erscheinungen wirklich
verständlich zu machen«. — Ich habe
übrigens diesen Gegenstand hier nur
flüchtig skizzieren können und weise auf
die näheren Ausführungen über denselben
in meiner Schrift »Leo Tolstoi und seine
Bedeutung für unsere Cultur« (Leipzig 1901,
Eugen Diederichs) hin, wo ich auch den
Versuch mache, die Umrisse einer künftigen
Lösung dieser großen Frage zu entwerfen.
Ganz ebenso wie auf dem Gebiete
der Organologie muss aber diese mecha-
nistische Lehre bankerott machen auf dem
Gebiete der Geisteswissenschaft.
Herbert Spencer geht z. B. bei der
Frage nach der Entstehung der sittlichen
Gefühle von der Ansicht aus, dass sich
dieselben infolge ihrer Nützlichkeit für die
im Staate associierten Individuen gebildet
haben. Handlungen jedoch, die ohne per-
sönliches materielles Interesse, mit Auf-
opferung der eigenen materiellen Vortheile,
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