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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 199

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SCHMITT: HERBERT SPENCERS SYNTHETISCHE PHILOSOPHIE.

willkürlich, wenn wir der einen oder der
anderen Sorte von Erscheinungen, entweder
der endlichsinnlichen oder der universellen,
einseitig den Charakter der Ursprünglichkeit
und die Bedeutung eines Seienden zu-
schreiben, und ist jeder solcher Schritt
schon ein Überschreiten des Gebietes der
Positivität und eine metaphysische, wissen-
schaftliche Hypothese, die sich selbst und
die Welt täuscht, wenn sie ihre Versuche
der Construction der einen Art dieser
Functionen aus der anderen für positive
Thatsache ausgibt. Die erstere Weise
der metaphysischen Construction, die
aus endlichen Gebilden der Erscheinung
die universellen Formen ableiten möchte,
nennen wir realistisch, und sofern
diese endlichen Erscheinungsformen als
sinnliche gelten, sensualistisch-
naturalistisch
. Die zweite Art der
Metaphysik wird als die idealistische
bezeichnet.

Nun ist es aber ganz offenbar, dass
die sogenannte positivistische Schule hier
die erstere Partei ergriffen hat. Schon
Comte stellte die metaphysische Be-
hauptung auf, dass die universellen Formen
des Bewusstseins bloße Abstractionen aus
dem Material sinnlicher Wahrnehmung
seien, und war mit diesem Schritte viel
weniger vorsichtig als Kant. Stuart Mill
versuchte auf dieser Basis den Aufbau
einer inductiven Logik, die allerdings sich
als hölzernes Eisen erweisen muss, sofern
sie die Ansicht verficht, dass die Ge-
wöhnung in zahllosen Fällen beobachteter
Einzelfälle logischer oder mathematischer
Gesetze den Grund der Sicherheit jener
Gedankenformen ausmacht. Nun aber ent-
scheidet der Natur der Sache gemäß die
Anzahl der Fälle nie darüber, ob ein
beliebiger Satz als allgemeines Gesetz gilt,
und könnten beliebige Anzahlen von
Centriblionen Fällen der Beobachtung
weißer Schwäne doch nie den Satz: Der
Schwan ist weiß, zum streng allgemeinen
Gesetze erheben. Es wird hiemit die vage
Möglichkeit des Unsinns zur Basis der
Logik und der Mathematik gemacht. In-
dem aber das Absurde so als vage Mög-
lichkeit gilt und der Boden der Vernunft,
der einzig sichere Boden, unter den Füßen
dieses Positivismus wankend wird, ist es
begreiflich, dass sich in der geschicht-

lichen Entwicklung, wie im Leben über-
haupt, wieder die Gegensätze berühren,
und das Thor der Phantasie und Phan-
tastik, das eben diese Positivisten sich an-
schickten, für immer zu verrammeln, nun
angelweit offen steht, und wie einst zur
Zeit der niedergehenden Religion des
Jupiter, so heute im niedergehenden
historischen Christenthum, die Scharen
der Geisterbeschwörer und Zauberer, der
Spiritisten und Occultisten wieder ihren
Einzug halten in diese große Auf-
erstehung der Todten, die wir Welt-
geschichte nennen.

Spencer ist nun ganz in diesem Bann-
kreise befangen, dessen Grundlinien von
Comte und Mill verzeichnet worden sind,
und versucht, die Ableitung der Welt der
Erscheinungen als eines aufsteigenden
Systems von Abstractionen, die schließ-
lich im unbestimmten und in seinen letzten
Höhen unbekannten Sein gipfeln, dessen
sichtbare positive Basis aber die Sinnes-
Erscheinungen bilden. Die Welt wird so zum
kahlen Schematismus von Abstractionen,
und die Darstellungen dieses dürren,
hölzernen Gerüstes heißt für ihn Philosophie.
Auf den Einblick in den sachlichen, leben-
digen Zusammenhang dieser ungeheuren
Gegensätze des Denkens und Lebens hat
diese Philosophie verzichten müssen,
da ihre falsche Grundvoraussetzung die
Darstellung eines solchen im vorhinein
unmöglich machen musste. Wie das dürre
Stroh, in welches sich die gepresste Planze
verwandelt, muthet daher dieser moderne,
naturalistische Scholasticismus an, der
meint, dass die Unmöglichkeit der Dar-
stellung solchen sachlichen Zusammen-
hanges von Physischem und Geistigem,
von Sinnesleben und Gedanke eine absolute
Grenze menschlichen Erkennens bedeute,
während ein solcher Agnosticismus nur
den Bankerott einer veralteten Welt-
anschauung in verdienstlicher Weise
demonstriert.

Die biologisch-darwinistische Seite
dieser Philosophie, um deren Ausarbeitung
sich Spencer in ganz besonderer Weise
verdient gemacht hat, bedeutet daher auch
nichts anderes als den Versuch, die Fülle
des organischen Lebens in seiner lebendigen
Einheit ebenso wie des geistigen Lebens,
welches als Blüte und Gipfelpunkt des

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 199, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0199.html)