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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 198

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SCHMITT: HERBERT SPENCERS SYNTHETISCHE PHILOSOPHIE.

gedanken des ersten hervorragenden Ver-
treters der positiven Schule, als deren
Vollender dann gewissermaßen Stuart Mill
und Herbert Spencer erscheinen.

Freilich hat sich auch einstweilen
schon die große historische Wendung voll-
zogen, die diesen ganzen Positivismus,
wenigstens in seiner mechanistisch-sensua-
listischen Form, gewissermaßen im Archive
der Geschichte begraben hat, aus einer
actuellen Gestalt des Bewusstseins, wenn
auch noch nicht ganz, zu einer interessanten
Antiquität, so doch zu einer halbvergan-
genen Gestalt gemacht hat. Im Wogen
der Geistes-Entwicklung ist, einem großen
Gesetze gemäß, die naturalistisch-realistische
Welt im Sinken und die idealistische im
Steigen begriffen. Es datiert sich das un-
gefähr seit jener Zeit, als Eduard von
Hartmann mit seiner anonymen Schrift
»Das Unbewusste vom Standpunkte der
Physiologie und Descendenztheorie« —
ein moderner Odysseus — sein trojani-
sches Pferd in das naturalistische Ilium
hineingeschmuggelt, welche Schrift von
den hervorragendsten Vertretern des
Naturalismus, unter anderen auch von Ernst
Häckel, als die beste über diesen Gegen-
stand gefeiert und vom naturalistischen
Lager mit Jubel begrüßt wurde, bis in
einer späteren Ausgabe sich Eduard von
Hartmann als Verfasser bekannte und die
gefeierte Schöpfung sammt allen Argu-
menten des metaphysischen Naturalismus
in Grund und Boden stampfte, worauf
dann tiefes Schweigen eintrat im natura-
listischen Lager und seitdem selbst die
Professoren der Zoologie, auch die jüngere
Generation und nicht bloß der alte Virchow,
Schriften mit Titeln herausgeben, wie:
»Die Descendenztheorie. Gemeinverständ-
liche Vorträge über den Auf- und Nieder-
gang einer naturwissenschaftlichen Hypo-
these« (wie unlängst ein Professor aus
Leipzig gethan) und den ganzen Bau
dieser angeblich auf »positiver« Grundlage
beruhenden mechanistischen Lehren über
das Werden des Organismus für ein
kühnes Phantasiegebäude erklären, welches
nun vollständig zusammengestürzt sei.

Und Herbert Spencer ist ein Fortführer
Comte’scher positivistischer Lehren, vor-
nehmlich auf dem Gebiete der organologi-
schen Hypothese. Die Lehre Spencers beruht

auf der einen Seite auf Comte, auf der
anderen Seite auf Darwin. Seine Lehren
wurzeln in den metaphysischen Annahmen
dieser Philosophen und stellen gewisser-
maßen durch den Darwinismus ergänzte
Comte’sche Grundansichten dar.

Während jedoch diese Sache in den
Kreisen der Gelehrtenwelt und auf der
Höhe der heutigen Wissenschaft in
solcher Weise entschieden ist, hinkt die
Masse der Intelligenz aller Stände (auch
die Arbeiterwelt zählt heute zu diesen)
diesen Ereignissen nach, und es lohnt
sich daher der Mühe, die Gründe in
Kürze zu skizzieren, die entscheiden, dass
erstens dieser Positivismus eigentlich eine
unbeweisbare und unhaltbare metaphysische
Hypothese und der mechanistische Dar-
winismus, der auf dieser Basis beruht, ein
unhaltbar gewordenes Phantasiegebäude
ist, welche Darlegung zugleich die
passendste Kritik der Grundansichten der
Spencer’schen Philosophie bildet.

Schon seit Kant ist klar geworden,
dass der positive Inhalt unseres Bewusst-
seins nur eine Welt der Erschei-
nungen
ist, und dass vom Sein zu
sprechen nur den Sinn haben kann,
dass wir Erscheinungen als Seiendes,
als seiende Erscheinungen auffassen, so-
fern solche Erscheinungen (wie die des
Natur-Erkennens) als richtige Abbilder
oder Copien ähnlicher seiender Erschei-
nungen gelten, die in der Welt der
endlichen Sinnesdinge dort draußen exi-
stieren, oder aber, sofern Erscheinungen
in uns selbst universellen Charakter tragen
und allumfassende Gesetze aller Gebilde
der Sinnesweit darstellen, demungeachtet
als ähnliche, allüberragende und allumspan-
nende Formen des Erscheinens oder der
geistigen Function (Kant nennt diese Formen
apriorisch) bei anderen, uns verwandten
intelligenten Wesen in gleicher Weise
existieren. Indem also in dieser Weise
zwei Gruppen von Erscheinungsweisen
oder geistigen Functionsweisen positiv
gegeben sind, so kommt es nun darauf an,
welcher von diesen zwei Gruppen wir den
Wert und die Bedeutung des Seienden
beilegen. Indem jedoch einfach positiv-
gegeben nur dieses Nebeneinander der
zwei Functionsweisen und deren sachliche
Beziehung ist, so ist es vorläufig ganz

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 198, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0198.html)