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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 197

Text

SCHMITT: HERBERT SPENCERS SYNTHETISCHE PHILOSOPHIE.

am Leitfaden des Satzes vom Grunde
von selbst abschnurrt — bildet das unter-
scheidende, äußere Kriterium.

Auch darin zeigt sich die große Ana-
logie zwischen den beiden Elementar-
Bethätigungen, dass sie auf ihrer höchsten
Stufe sich vom ethischen Problem nicht
mehr loszuringen vermögen. Nicht bloß
sein erkennendes, sondern auch sein fühlendes
und wollendes Ich projiciert dann der Denker
auf das Weltganze; himmelan lodert die
Glut des Erkenntnis-Triebes, die sich mit
der vollkommensten Liebe vereinigt hat,
in Giordano Bruno; unheimlich flackert
das verhaltene Feuer unter dem keuschen,
mathematischen Faltenwurf des Spinoza.

Wenn zuletzt das ethische Grund-
phänomen unter dem Gesichtspunkte der
öfters angeführten Betrachtungsart seine
Erläuterung finden soll, so muss aus-
drücklich betont werden, dass dem Pro-
jectionsvermögen auf diesem Gebiete keine
andere Bedeutung zukommen kann, als die
eines cerebralen Anschauungsvermögens
besonderer Art. Schon im vierdimensionalen
Raum verliert die Bezeichnung eines ge-
schlossenen oder offenen dreidimensionalen
Körpers ihre Berechtigung. Andererseits

erscheint die dreidimensionale Mannig-
faltigkeit selbst als das eigentliche
Platonische Projections-Phänomen
,
so dass in voller Analogie geschlossen
werden darf, dass jener Vorgang, der uns
in der sittlichen Welt ermöglicht, die harten
Hirnschalen zu durchbrechen und uns ganz
in die Innenwelt eines Zweiten zu versenken,
vielleicht — ja höchst wahrscheinlich —
psycho-physisch zugeordnet sei jener höher
dimensionierten Mannigfaltigkeit, durch
deren Projection unsere phänomenale Welt
mit ihrem Nebeneinander der Körper zu-
stande kommt.

Das Weiterverfolgen dieser Relationen
hat — wenn unser Erkenntnis-Apparat
auch bald versagt — keine Grenze. Hier
verliert sich der Blick aus dem Reich des
Apodiktischen in die endlose Spiegelung
des Relativischen. Wir erkennen uns als die
Mittelglieder einer unendlichen Kette, von
der wir kaum noch die allernächsten wahr-
zunehmen vermögen. Dem Hang des
Menschen, sich diese ewige Relativität mit
größter Klarheit ins Bewusstsein zu
bringen, entspringt die Wissenschaft. Sie
ist die rätselhafteste Erscheinung des
organischen Lebens.

HERBERT SPENCERS SYNTHETISCHE PHILOSOPHIE.
Von DR. EUGEN HEINRICH SCHMITT (Budapest).

J. Howard Collins, der eine »Epi-
tome der synthetischen Philo-
sophie Herbert Spencers
mit einer
Vorrede von Herbert Spencer« herausgab,
und J. Victor Carus, der das Werk nach
der fünften Ausgabe übersetzt hat (er-
schienen im Verlage von C. G. Naumann
in Leipzig), haben sich ein entschiedenes
Verdienst um die philosophische Literatur
erworben, indem sie diesen möglichst »wort-
getreuen« Auszug der Spencer’schen philo-
sophischen Schriften der Öffentlichkeit
übergaben. Besonders in deutschen Landen
wird man es hoch zu schätzen wissen,
dass uns nun die Hauptgedanken dieses
Repräsentanten des modernen, agnostisch
angehauchten Naturalismus nicht mehr in

der breiten Form geboten werden, wie
sie in den ursprünglichen Schriften Spencers
vorliegen, sondern gleichsam in der Gestalt
eines geistigen Extrades, einer concen-
trierten Essenz. Denn nach unserem Ge-
schmack erscheint der Stil dieser Original-
werke in unerträglicher Weise verwässert
mit der ausführlichen Darlegung von Bana-
litäten, so dass man Mühe hat, den
charakteristischen Kern herauszuschälen
aus den pedantischen, gelehrten Hülsen.
Insoferne ist der Herausgeber einem wirk-
lichen Bedürfnisse entgegengekommen, wie
schon früher Jules Rig mit seiner Aus-
gabe des Extractes der Auguste Comte-
schen Philosophie sich ein Verdienst er-
worben hat um die Verbreitung der Grund-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 9, S. 197, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-09_n0197.html)