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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 223

Text

BRYK: DIE MUSIK ALS TÖNENDE WELT-IDEE.

Der Versuch, die vier möglichen
Combinationen
von Melodie-Elementen
zu bezeichnen und näher zu untersuchen,
wird dem Autor als bleibendes Verdienst
angerechnet werden müssen — es ist ein
gesunder Gesichtspunkt in einem schwer
zugänglichen Gebiete; und man wird dann
gerne über das etwas Unzureichende der
Begriffsbestimmung hinweggleiten, wo die
Willkürlichkeit der Cäsur eine Periode
bald der einen, bald der anderen Kategorie
zuzuweisen veranlasst. Hingegen möchte
man die mikrologische Ausdeutung von
Melodietheilen lieber vermissen, wenn
auch zugegeben werden muss, dass der
Autor über ein gereiftes Kunstverständnis
und klare Menschenkenntnis verfügt, die ihn
befähigen, die Richtigkeit seiner Auffassung
Manchem plausibel zu machen. Schließlich
führt das Aufstellen eines typischen, also
canonischen »tragischen Motivs« noth-
gedrungen zu jener formalistischen Behand-
lung der Musikkritik (wenn auch aus
anderen Gründen), die der Autor mit Recht
intensiv bekämpft. Diese Behauptung findet
schon heute ihre erste Bestätigung in dem
Werke selbst, wo es (pag. 283) heißt,
dass in den Schubert’schen Liedern
»kein einziges tragisches Motiv vor-
kommt«!!!

Die als Belegstellen dienenden Motive
der übrigen Componisten sind wohl nicht
sonderlich glücklich gewählt, was sich bei
der großen, zu bewältigenden Arbeit und
der Neuartigkeit der Behandlung leicht
erklären lässt: So ist Mozart nur an
einer Stelle, Schubert und Schumann
höchst dürftig, Mendelssohn wenig
charakteristisch, der edle Jensen, schließ-
lich Brahms (sowie Bruckner) gar
nicht herangezogen worden. Hoffentlich
bringt ein nächster Band die Ausdehnung
der Melodiegesetze auf die — hier zu-
nächst in Betracht zu ziehenden — Haupt-
repräsentanten des Liedstiles.

Es ist zweifellos, dass ein gewiss ehr-
liches und gründliches Forschen Herrn
Mey dahin bringen wird, seinen Urgesetzen
zwingendere Beweiskraft zu verleihen —
ein bei unserer heutigen Causerie- und
Jargon-Ästhetik herzlichst zu wünschendes,
vorwärtstreibendes Moment. Es muss aber
heute schon gesagt werden, dass Natur-
gesetze darum, dass sie in die Verstandes-
formen gefasst werden können, nicht
weniger metaphysisch sind, und dass meta-
physische Urgesetze — als solche bezeichnet
ja Herr Mey seine Entdeckungen — eben-
sowohl einer streng exacten Deduc-
tion bedürfen, wie Naturgesetze.

Verantwortl. Redacteur: R. Dworschak — K. k. Hoftheater-Druckerei, Wien, I., Wollzeile 17. (Verantwortl. A. Rimrich.)

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 223, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0223.html)