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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 222

Text

BRYK: DIE MUSIK ALS TÖNENDE WELT-IDEE.

hin, das unbewusst-individuelle Wirken
im Gegensatz zur heroischen That (Willens-
oder »Web«-Motive).

4. Ab- und aufsteigende Motive sind
der Ausdruck des bewussten heroischen
Wirkens, des von der Erkenntnis be-
leuchteten, in seiner Tragik erfassten
Daseins (Leb- oder »Erkenntnis«-Motive).

5. Die einzelnen Intervalle haben eine
streng definierte, objective Bedeutung;
wesentlich ist, dass die Chromatik nur
dem subjectiven Bewusstsein zukommt.

Die Deduction dieser fünf melo-
dischen Urgesetze. erfolgt auf Grund des
Princips der »melodischen Polarität des
tönenden Individuums«. Dem Individuum
ist nämlich (physiologisch) ein bestimmtes
Tonbereich zugewiesen. Den Mittelpunkt
dieser tönenden Scala bildet ein Ton, der
als Projectionspunkt des »Dinges an sich«
in die Erscheinungswelt statuiert wird, und
zu dessen beiden Seiten sich (im Sinne der
Intervallik des Verfassers) das Bereich der
Willens- und Erkenntnis-Transcendenz
nothwendig erstrecken muss.

Es lässt sich nicht leugnen, dass in
den eben angeführten Melodiebildungs-
gesetzen thatsächlich ein System von
ungezwungen schöner Architektonik im-
plicite gegeben ist, auch dann, wenn man
die tönende Polarität des Individuums als
Phantasma abweist. Und es darf nicht ver-
gessen werden, dass die in der Ableitung des
Intervallgesetzes vorgetragene psycholo-
gische Analyse der Intervallwerte einen
höchst wertvollen Beitrag darstellt in der Ge-
schichte dieses seit den Tagen Keplers*
und Huyghens’** bis auf Kirnberger***
mit großem Fleiße und unter wenig posi-
tiven Resultaten untersuchten Gebietes. Es
muss ferner die tiefe Kenntnis des Wagner-
schen Kunstwerkes, auf die sich die ganze
Arbeit stützt, und die geistvolle Ver-
wertung des hierüber vorliegenden biblio-
graphischen Materiales rückhaltslos aner-
kannt werden. Leider wird der Gesammt-
eindruck wesentlich beeinträchtigt durch
das ewige Herunterkanzeln des — die
musiktheoretischen Ansichten des Autors
nicht bedingungslos hinnehmenden —

Kunstpöbels, und dadurch, dass die grund-
legenden Theorien nicht als symbolische
Conceptionen
, sondern als unveränder-
lich geltende Axiome aufoctroyiert werden.
Gewiss kann es nicht geleugnet werden,
dass ästhetischen Werten ein bedeutsamer
objectiver Gehalt zukommt; aber eben
deshalb verlangen ästhetische Gesetze die
allergründlichste, sinnes-physiologisch
und erkenntnis-theoretisch gleich
tief fundierte Deduction
. Was Herr
Curt Mey gibt, ist, so sehr er sich auch
dagegen sträuben mag, Induction; und
da sein Motivschatz nur von Wagner
hergenommen wurde, entschieden unvoll-
kommene Induction. Auch der enragierteste
Wagner-Enthusiast wird — wenn er anders
wahrhaft musikhistorisch gebildet ist —
zugeben müssen, dass aus der Zeit der
zerfallenden Contrapunktik und der be-
ginnenden modernen Harmonik ein unend-
licher Reichthum von melodischen Urmotiven
vorliegt und dass die motivbildende Kraft
Bachs von niemandem, auch nicht von
Wagner, erreicht worden ist. Um diesen
zu würdigen, darf man allerdings nicht
von der (eigentlich bereits im Anfange des
XIX. Jahrhunderts veralteten) Anschauung
ausgehen, dass die ganze Musik des
Mittelalters nur technisch-polyphonen Wert
besitze, und ihr infolgedessen nur das
Epitheton einer »architektonischen Form-
kunst« zuzusprechen sei. Hievon aber
ganz abgesehen, ist das Negieren der
psychologischen Bedeutsamkeit der Vor-
Wagner’schen Musik entschieden eine der
allerwillkürlichsten Constructionen, die hin-
sichtlich ihrer Exclusivität nur mit der
dogmatischen Ablehnung Wagners durch
die Formal-Ästhetiker verglichen werden
kann. Wenn es sich um einen deductiven
Nachweis handelte, ist — in erster Linie —
überhaupt kein künstlerisches Indivi-
duum
† bevorzugt; und wenn, wie hier,
eine höchst mühevolle inductive Unter-
suchung angestellt wird, wären die primi-
tivsten Äußerungen musikalischer Art bei
Kindern, Thieren und Völkern kindlicher
Culturstufe wohl überzeugender und —
lehrreicher.

* Harmonice mundi Liber III, Cap. I (1619).

** Kosmotheoros (1694).

*** Die wahren Grundsätze etc. (1773).

† Ebenso wie kein bestimmtes Tongeschlecht, also auch nicht die diatonische Tonleiter.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 222, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0222.html)