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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 221

Text

BRYK: DIE MUSIK ALS TÖNENDE WELT-IDEE.

Wesen; was keine Nerven hat, kann
nicht bewusst sein.) Überhaupt sei die
Nervensubstanz nur ein Mantel um
den Äther.

Die Causalität, in allen ihren Formen,
als Energie-Princip, Gesetz von der Er-

haltung der Materie u. s. w., den äther-
erfüllten Weltenraum regelnd, kann
als das Zeichen einer allgemeinsten
Seele gelten. Sie zeigt das Dasein
Gottes an.

DIE MUSIK ALS TÖNENDE WELT-IDEE.*
Von OTTO BRYK (Wien).

Der Metaphysik der Musik hatte Schopen-
hauer Zeit seines Lebens die größte Aufmerk-
samkeit gewidmet; die nur an die Anschau-
ungsform der Zeit gebundene Kunst erwies
sich ihm am geeignetsten für die Demon-
stration einer ästhetischen Grund-Anschau-
ung, die den Künstler als den die Platonischen
Ideen in ihrer vollkommensten Reinheit —
frei vom Satze des zureichenden Grundes
— Erkennenden betrachtet. Dennoch hat
Schopenhauer nur wenig über die Cardinal-
fragen der Musik-Psychologie niederge-
schrieben, und sich — in seinem Haupt-
werke und den hiezu gehörigen Zusätzen
— darauf beschränkt, die Musik als
Darstellung der Willens-Objectivationen
höchster Stufe nachzuweisen. Die übrigen
musik-aesthetischen Erörterungen des Philo-
sophen sind rein aphoristisch aufzufassen
und sind — wie jeder einsichtige Schopen-
hauer-Verehrer gerne zugeben wird —
vor einer tiefer gehenden Kritik nicht
zu halten.

Als thätiger Erbe des Schopenhauer-
schen Gedankenkreises, insoweit dieser
die Musik-Aesthetik betrifft, will der
Autor der vorliegenden Studie betrachtet
werden. Er steht völlig im Bannkreise
des Schopenhauer’schen Systems, infolge-
dessen auch unter dem Zeichen der
transcendentalen Kunst-Anschauung, wie
sie Wagner in seiner »Beethoven«-Fest-
schrift in ebenso klarer, als begeisterter
Weise zum erstenmale entwickelt hat.
Wenn man erwägt, dass hier die Reflexionen
eines gewaltigen schaffenden Künstlers in
der ungezwungensten Weise die aus der

theoretischen Betrachtung geschöpften Er-
kenntnisse eines Denkers illustrieren und
weiterführen, so ist es wohl begreiflich, dass
sich ein empfänglicher Musik-Psychologe
dem willkommenen Zwange dieser Syste-
matik nicht gern entzieht. Für jeden Fall
aber obliegt es dem Recensenten, diesen
vom Autor gewählten und unumwunden
bezeichneten Standpunkt entweder bedin-
gungslos anzunehmen oder die Recension
einfach abzulehnen.

Unter diesem Gesichtspunkte muss die
vorliegende Arbeit zunächst als eine weit aus-
spannende, die Gedanken Schopenhauers
und Wagners geistreich und kühn weiter-
führende Studie bezeichnet werden. Sie
ist von hohem künstlerischen Ernst ge-
tragen und berührt theilweise wenig, theil-
weise noch gar nicht näher untersuchte
Probleme der theoretischen Musik-Ästhetik.

Ehe jedoch das vom Verfasser auf-
gestellte Schema kritisch beleuchtet wird,
dürfte es am Platze sein, seine wichtigsten
Thesen so kurz als möglich wiederzu-
geben. Sie betreffen — nach dem Inhalte
des vorliegenden (I.) Bandes — die
(metaphysischen) Urgesetze der »Melodik
und Intervallik« und könnten folgender-
maßen formuliert werden:

1. Durchwegs aufsteigende Motive
drücken das Entstehen, Werden aus
(»Werde«-Motive).

2. Durchwegs fallende Motive be-
zeichnen das Vergehen (sind willensver-
neinend, »Vergeh«-Motive).

3. Auf- und absteigende Motive be-
zeichnen das immanente Dasein schlecht-

* Curt Mey: Die Musik als tönende Welt-Idee. Theil I. Leipzig, 1901.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 221, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0221.html)