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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 220

Text

DIE DEUTUNG DER CAUSALITÄT.*

Der Natur-Philosoph hat in einigen
seiner Werke auch erkenntnis-theo-
retische Gedanken von größter Trag-
weite entwickelt. Von besonderem Inter-
esse in dieser Richtung ist die tiefsinnige
Deutung der Causalität, welche er
ähnlich wie David Hume fasst: als die
Erscheinung, dass auf gleiche Zustände
eines körperlichen oder geistigen Systems
regelmäßig die gleichen Folgen (Folge-
zustände) eintreten. Warum eine Kugel,
unter denselben Bedingungen an die
Wand geworfen, jedesmal unter dem-
selben Winkel zurückprallt? Wir könnten
uns in der Phantasie geradesogut vor-
stellen, dass sie einmal unter großem,
ein anderesmal unter kleinem Winkel
abgestoßen wird. — Aber die Erfahrung
lehrt, dass dem nicht so ist. Diese
Regelmäßigkeit ist eine auffallende Er-
scheinung, wenn sie uns auch infolge
der langen Gewohnheit selbstverständ-
lich vorkommt. Fechner deutet dies
folgendermaßen:

Alles, was wir gleichzeitig wahr-
nehmen, steht mit einander in Wirkungs-
bezügen; dadurch werden die Empfin-
dungen in einer Bewusstseins-Einheit
zusammengefasst. Der Baum, das Haus,
der See sehen allein ganz anders aus,
als in ihrer Vereinigung; jede Einzel-
Empfindung bestimmt die übrigen mit.
Diese »Wechselbestimmtheit« gleich-
zeitiger Empfindungen geht in der Zeit
in eine »Folgebestimmtheit« ein, d. h.:
jedes Blatt, jeder Zweig, den ich im
Leben wahrgenommen, wirkt zu dem
Eindruck mit, den ich von einem Baum
empfange. Diese Erinnerungsbilder
kommen keineswegs gesondert ins
Bewusstsein; sie bewirken, im Unter-
bewusstsein arbeitend, dass ich beim
Einströmen aller (sinnlosen) Sinnes-
Elemente, des grünen Runden und des

länglichen Braunen sofort die
klare Vorstellung des Baumes habe.
An solcher Folgebestimmtheit hängt
aber alle Fort-Erhaltung der Indivi-
dualität; fehlte sie, so würde es nur
Empfindungen geben, doch kein ver-
einigendes Bewusstsein.

Diese psychischen Processe sind
an die materielle Causalität geknüpft.
Jedesmal folgt auf den Gehirnvorgang
A der Gehirnvorgang B; jedesmal bei
Aufnahme eines Sinneseindruckes ent-
stehen auch die damit verbundenen
Eindrücke wieder. Entstünde bei der
Empfindung: Blatt einmal die Empfin-
dung: Zweig, Baumrinde u. s. w., ein
andermal: scharf, schneidend, metallen
— so könnten wir nie die Vorstellung
des Waldes erwerben; allgemeiner
gesprochen
: es könnte nie eine
einheitliche Verknüpfung von
Eindrücken stattfinden
, es wäre
keine Erfahrung, kein einheitliches Be-
wusstsein, kein Ich möglich. Unser
»Ich« ist also wesentlich mit der Cau-
salität in unserem Nervensystem ver-
knüpft. Ohne Causalität ist keine Fort-
erhaltung der Individualität möglich.
Die Erscheinung der allgemeinen Cau-
salität in der ganzen Natur deutet
also darauf hin, dass die ganze Natur
eine Individualität, eine Bewusstseins-
Einheit forterhält.

Die Causalität in der ganzen Natur
weist also auf die Existenz eines all-
gemeinsten Ich hin.

Den veralteten Aberglauben, dass
Bewusstsein durchaus mit Protoplasma-
substanz und Nervenzellen verbunden
sein müsse, widerlegt Fechner mit
folgendem Gleichnis: Die Geige hat
Saiten und tönt; die Flöte hat keine
Saiten und tönt nicht. (Menschen und
Thiere haben Nerven und sind bewusste

* S. Zendavesta, III. Band. Anlässlich des Fechner-Centenars wird uns Obenstehendes
aus Zürich geschrieben.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 220, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0220.html)