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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 219

Text

JANET: DAS GEFÜHL DER PERSÖNLICHKEIT.

stellt er das Problem auf, dessen Bedeutung
wir erkennen werden, das Problem der
persönlichen und der nicht-persönlichen
Thätigkeit. Erwähnen müssen wir schließ-
lich noch eine Gruppe sehr interessanter
Theorien, die diese Thätigkeit als besonders
intellectuelle betrachten. Ampère, Renouvier
und sogar Wundt sehen, obgleich ihre
Theorie zögernder ist, in der Synthese der
Vorstellungen eine Art Urtheil und Raison-
nement, betrachten die freiwillige An-
strengung als ein geistiges Factum und
verknüpfen die Persönlichkeit mit einer
Anschauung.

Ich glaube, diese zweite Periode des
Studiums der Persönlichkeit ist durchaus
nicht unfruchtbar; sie hat das Problem
der Unterscheidung des Ich und des Nicht-
Ich klar aufgestellt, sie hat die concreten
Elemente der Persönlichkeit aufgezählt,
sie hat in leider etwas hypothetischer
Weise die Operation der Synthese be-
schrieben, die sie zu einer Einheit ver-
einigen soll.

Die Psychologen, von denen ich eben
gesprochen, erscheinen mir ungeheuer ehr-
geizig, und wenn man es so sagen darf, naiv
anspruchsvoll. Man gestatte mir, um mich
verständlich zu machen, einen Vergleich
zu gebrauchen: Ein Philosoph wäre heut-
zutage der abscheulichste Schüler der
Mathematik, denn schon beim ersten Wort
würde er den Lehrer unterbrechen, indem
er ihn fragt, was er unter dem Raum,
unter der Linie, unter der Grenze einer
Linie versteht, und sich weigert, ohne
Erklärung und Definition alle diese Vor-
begriffe zuzugeben, ohne die eine Geo-
metrie nicht möglich ist. Ein großer Mathe-

matiker — Laplace, glaube ich — ärgerte
sich über diese Discussionen zu Beginn des
Cursus und sagte zu den Schülern: »Lernen
Sie zunächst die ersten vierzig Lectionen
auswendig, ohne sie zu begreifen und dann
werden wir von Mathematik sprechen.«
Wir sollten dasselbe in der Psychologie
sagen können, denn kein Studium ist
möglich, wenn wir uns von Anfang an
in die Auslegung der gebräuchlichsten
Worte verlieren. Alle Philosophen, von
denen ich gesprochen, streiten unmittel-
bar über das Subject und Object, über
das Active und Passive, über den Willen,
die Freiheit u. s. w., und vergessen in
diesen ungeheuren Problemen die klaren
Facta, die sie mit größerer Genauigkeit
hätten beschreiben können. Hätte Jouffroy
die Beziehungen des Willens und der
Persönlichkeit nicht viel besser erklärt,
wenn er sie nicht gleich durch das
Problem der Freiheit complicierte? Dieser
unbemessene Ehrgeiz existiert in keiner
Wissenschaft, und überall treibt man
Physik oder Chemie, ohne zu begreifen,
was die Bewegung oder das Atom ist;
wann also wird man den Philosophen ge-
statten, ein Factum der Erinnerung, eine
Störung der freiwilligen Bewegung zu
discutieren, ohne sie auf der Stelle mit
einem ironischen Lächeln zu unterbrechen,
um sie zu fragen: »Was halten Sie vom
Gewissen? Welcher Art ist die Be-
ziehung
, die zwischen dem Gewissen
und der Cerebralzelle existiert

und andere Geheimnisse derselben Art.
Nicht-wissen-können ist eine Wissenschaft,
welche die Psychologen, die uns voran-
gegangen sind, nicht besaßen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 10, S. 219, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-10_n0219.html)