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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 249

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

15. JUNI 1901

V. JAHRGANG, NR. 12


EIN BLICK GEGEN DEN HIMMEL.
Von AUGUST STRINDBERG (Stockholm).

Es war der Ostertag und der Seidel-
bast blühte im Stockholmer Park, der
Seidelbast, der die Blüte der Syringe
trägt und deren Duft nachahmt, ohne
eine Syringe zu sein.

Wir sollten die Sonne tanzen sehen,
wie die Legende sagte, an diesem Auf-
erstehungstage. Als ich die Augen er-
hob, um das Gestirn des Tages zu
beobachten, entdeckte ich nichts als
einen glänzenden Schein weißen Feuers,
und ich gab den gefährlichen Anblick
auf, an den Rath meiner Mutter den-
kend, die mir gesagt hatte, dass die
Sonne Einen blind machen könne.

Viele Ostertage sind seitdem ver-
gangen, und es geschah, dass ich
darauf verfiel, die Sonne zu betrachten,
um ihre Flecken zu entdecken.

Sie befand sich im Himmelsäquator,
weil es Frühlingsnachtgleiche war. Die
Augen gegen die Sonne erhebend, be-
merkte ich zuerst nur einen ungeheueren
Schein, eine Wolke von Feuer, die sich
nach und nach condensierte, sich con-
centrierte, um eine goldgelbe Scheibe
zu bilden, die in einem zweiten, bald
silberweißen, bald eisenschwarzen Kreise
rotierte.

Da kam mir die Idee: Ist die Sonne
rund, weil wir sie rund sehen? Und
was ist das Licht, etwas außer mir
oder nur subjective Wahrnehmung?

Das Licht, eine Kraft und nicht eine
Materie, wie könnte es sichtbar sein,
da die anderen Kräfte nicht sichtbar
sind? Ist die Sonne das allgegenwärtige,
primitive, ungestaltete Licht, das mein
mangelhaftes Auge nur erfassen kann
als den kleinen, gelben Fleck auf dem
Grunde des nur im Strahlenglanze sen-
siblen Sehorgans?

Und dann, was ist das Licht, da
die Dunkelheit nicht sein Gegensatz
ist? Schließe dich in einem dunklen
Zimmer ein, bedecke die Augen mit
den Händen, drücke auf die Kugeln,
und du wirst sehen, dass das Licht
im Dunkeln existiert.

Eben diesen Versuch habe ich viele-
male wiederholt, controliert und auf-
gezeichnet.

Also, wenn ich die Augen mit den
Condylen der Fäuste drücke, sehe ich
ein Chaos von Licht, Sternen, Funken,
die sich zu einer glänzenden Scheibe
sammeln und condensieren, welche sich
ganz genau so dreht wie die Sonne.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 249, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0249.html)