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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 265

Text

WIENER
RUNDSCHAU

HERAUSGEGEBEN VON FELIX RAPPAPORT

1. JULI 1901

V. JAHRGANG, NR. 13


DIE KANZEL DER HEILIGEN GUDULA.*
Von TOLA DORIAN.

Das ist ein blondes Blühen, eine
Art monströser Pflanze, aufgeblüht an
der linken Seite des Schiffes, das Reihen
von Säulen tragen in Zwischenräumen
zwischen den bleichen und schlecht
getünchten Wänden der Kathedrale der
heiligen Gudula.

Unter der unendlich schweigsamen
Nacktheit der Spitzbogenwölbung ist
es ein hohes Gedicht baumgleich
durchbrochen wachsenden Lebens, mit
ambrafastigen Gliedern, mit Fugen
zart wie die einer Goldschmiedarbeit,
einem ganzen schweigsam-sinnbildlichen
Pflanzenwahnsinn; Schnörkel, Akan-
thusblätter, Blümchen, Früchte, phan-
tastische und grandiose Verschlin-
gungen eines hieroglyphischen Gewebes,
entstanden aus einer transcendenten
Ironie, aus Mysticismus und Philosophie.
Es ist die gedrängte Strophe einer
wunderbildlichen Glaubenshymne, eine
opulente, religiöse Abschweifung, und
in diesem harmonischen, sanft ein-
farbigen Astwerk zerstreut Vögel, Hei-
lige, Thiere, Sterbliche und Erzengel;
sie verkürzen und entfalten sich, contou-

rieren die glatten Außenseiten, mildern
die Winkel, tragen das Laubwerk, über-
ragen und umrahmen eine Baldachin-
tribüne, schwerfällig drapiert in naiven
Falten von hieratischer Steifheit.

Von dieser Tribüne spricht zu den
angesetzten Stunden der Prediger.
Unter ihr gehen, mit der gequälten
Bewegung von Karyatiden, Adam und
Eva aus dem Paradies, von dem
Flammenschwert des Cherubs verjagt;
Adam zur Hälfte verborgen von dem
Halbschatten gefranzter Vorhänge, Eva
wild losgelöst in vollem Licht.

Diese unerzählbare Orgie von Wesen
und Pflanzen, wunderbar durchmengt von
entzückenden, grotesken, treuherzigen
oder erhabenen Details, wurde ganz in
Eichenholz geschnitzt von dem alten
Meister H. Verbruggen um das Jahr
des Heils 1699.

Und die Zeit, die launische Ver-
ehrerin ausgezeichneter Dinge, die un-
erbittliche Zerstörerin der Wesen, hat
dieses Holzwerk unberührt bewahrt,
ohne eine Schramme, ohne einen Bruch,
ohne ein Wurmloch. Sie hat es viel-

Deutsch von Emil Rudolf Weiß, Baden-Baden.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 13, S. 265, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-13_n0265.html)