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den Proletariern vorzugaukeln, diese Ge-
sellschaftsordnung sei so schwach und
feige, dass es kaum der Mühe lohnt, ihr
noch den letzten Fusstritt zu geben. Man
legt das Buch, bei aller Verehrung für
den Charakter des begeisterten Sehers,
mit dem leisen Ekelgefühl beiseite, dass
Zola-Froment ein Phantast und falscher
Glücksprophet sei und noch ein Jahr-
hundertkampf seinen Traum von selbst
nur theilweiser Erfüllung trenne.
Für Diejenigen freilich, die sich mit
seiner Haltung in der Dreyfußsache nicht
befreundeten und eitle Reclamepose da-
hinter witterten, fällt jetzt auf seinen
Seelenzustand ein neues sympathisches
Licht. Der berühmte »Realist« blieb eben
der alte »Romantiker«, als den er sich
selbst bekannt hat. Gens irritabile vatum!
In kochender Erregung, leidenschaftlich,
unüberlegt, ergreift er jede Gelegenheit,
um der Heuchelei und der lackierten Halb-
barbarei der sogenannten Culturgesellschaft,
die auch einem Zola nicht den gebürenden
Rang zuweist, seine Verachtung ins Gesicht
zu speien. Dreyfuß und Mercier sind ihm
bloß Namen, Mittel zum j’accuse-Produ-
cieren. Voll ehrlichstem Eifer, voll schöner
Erbosung gegen jedes wirkliche oder an-
gebliche Unrecht, liegt ihm allerdings die
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schwerere Zurückhaltung ernster, gewissen-
hafter Prüfung des Für und Wider fern.
Vom Augenblicke launisch fortgerissen,
sieht er nur noch Pechschwärze oder
Rosenfarbe. Alle Zweifler an Dreyfuß
sind verrückte Schufte, alle Dreyfuß-
anbeter haben »eine Seele von Krystall«.
Wird der neue Evangelist in diesem
Stile weiterpredigen? Oder wird sein Genie
zur Erkenntnis erwachen, dass seine pseudo-
erhabene Seichtigkeit sich allzu fröhlich
mit dem Lebensräthsel abfand, dass keine
Austilgung des materiellen Übels schon
ein »Himmelreich« verbürgt, in dem lauter
gute, gesunde Menschen von einförmigem
Wollen umherwandeln, dass man von
jeder Demokratie die bekannten Par-
venü-Laster zu erwarten hat? In seinem
»Paradies« gibt’s augenscheinlich weder
Krankheit noch Unglücksfälle, man stirbt
selig an Altersschwäche; diese unbändig
frohsinnige Lebenslust »lacht« immer-
zu. Ach, wer lacht da? Wir selbst, die
Leser, ein bitteres Lachen. Ohne Sinn
für historische Gesetze, will er auch das
metaphysische Bedürfnis mit einem Feder-
strich beseitigen, doch dies reicht in
höhere Sphären hinauf, als seine Schul-
weisheit sich träumen lässt.
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