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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 262

Text

BLEIBTREU: »ARBEIT«.

Abbé aus seinem Glauben heroischen
Aufschwung schöpft — als Einziger in
unserer verfaulten Gesellschaft — und die
einstürzende Kirche ihn begräbt, hat so
in ihrer vorlaut gespreizten Symbolistik
einen hohlen, rhetorischen Ton. Zum
Lächeln aber reizt vollends der theatralische
Auftritt, wo der gelähmte Unternehmer-
greis plötzlich im Tode die Sprache zu
dem löblichen Zwecke wiederfindet, Rück-
gabe sämmtlicher durch Ausbeutung der
Mitmenschen gewonnenen Güter an die
Genossenschaft zu befehlen. Zola rühmt
selber diesen Einfall poetischer Fiction:
»Nie gab es ein erhabeneres Schauspiel«
und vielleicht traten dem enthusiasmierten
Schöpfer dabei die Thränen in die Augen.
Aber ach, vom Erhabenen zum Lächer-
lichen ist nur ein Schritt!

An sich betrachtet, enthält Zolas Zu-
kunftsbuch einige prachtvolle Einzelheiten
im besten Stil, doch der Mangel an Wahr-
heit hat sogar sein Talent des Natürlich-
Sprechens vermindert, derart, dass hier
ungebildete Arbeiter in studierter Papier-
sprache wie ein Buch reden, am Schluss
sogar die Frauen, darunter eine ehemalige
Fabriksarbeiterin, wie ein Buch mit sieben
Siegeln, wie höchstens bedeutende Männer
in einer Festrede. In solchem Propheten-
ton, der die schlimmsten vom Realismus
verspotteten Übel des alten Stils wieder-
holt — etwa wie in Goethes »Wahl-
verwandtschaften«, wo Jeder bis zum Be-
dienten herab in den gleichen, unerträg-
lich platten Satzperioden und gewählten
Ausdrücken uns mit Tiefsinn beglückt
und ein Pensionsfräulein in ihr »Tagebuch«
weltmännische Erfahrungen und Weisheiten
des alten Goethe aufzeichnet — wird uns
so beiläufig mitgetheilt, dass auch außer-
halb des Fabellandes von Beauclair der
Socialismus siegte. »In einer großen Re-
publik« (Frankreich) hat der Collectivis-
mus gesiegt, obschon das Eigenthum sich
im Bürgerkrieg widersetzte, und »in einem
großen Nachbarreiche« (Deutschland)
wateten die Anarchisten durch ein Blut-
meer, bis sie die alte Gesellschaft mit
Stumpf und Stiel ausrotteten. Vorher gieng
»der letzte Krieg«, dessen ungeheures
Massacre seine Unmöglichkeit darthat und
alle Nationalitäts-Schranken wegräumte.
Aber der Staatssocialismus, der das Privat-

eigenthum expropriierte, hatte große Mühe,
sich als alleiniger Arbeitgeber mit seinen
»Bons« und Controlbureaus durchzusetzen,
man fiel ins Kasernen-Regimentieren zurück
mit harter Disciplin der Beamten-Officiere,
aber zuletzt wurde doch alles sehr gut,
sobald nur Capital, Handel und Geld-
münze ausgemerzt waren.

Und auch die Anarchisten sahen ihre
Zerstörung an und siehe da, es war sehr
gut. Sie betrieben sofortige communistische
Theilung, schafften jegliche Staatsform ab,
brauchten keine Behörden wie die Col-
lectivisten, sondern der freie Mensch lebte
sich ohne Aufseher aus, wie ihn gut-
dünkte. Und zuletzt wurde der Anarchis-
mus, diese politische Negation, eine
positive Evolution, aus welcher die freie
Association der einzelnen Gruppen unter
gegenseitigem Warenaustausch hervor-
gieng. Und diese bei Zola schon voll-
zogenen Welttriumphe der Revolution
begrüßt Heiland Froment mit väterlicher
Huld, obschon er die blutigen Wege nicht
billigt und ja durch sein Werk über-
zeugend bewies, dass man bloß durch die
Zauberformel »Association von Arbeit und
Capital« der alten Gesellschaftsordnung
friedlich den Garaus machen könne! Es sollte
uns nicht wundern, wenn alle Socialisten
diese gefährliche Fiction wirklich zum
»Evangelium« erheben, und hier liegt
Zolas Vergehen, sein unverantwortlicher
Leichtsinn. Mag er, von der alleinselig-
machenden Heilswahrheit seines Fourieris-
mus durchdrungen, solche Zukunft fest
erhoffen, mag er sich über die innere und
äußere Unmöglichkeit der Froment-Reform
in der Gegenwart hinwegtäuschen — er
müsste nicht der Weltkenner sein, der er
ist, wenn er nicht wüsste, dass sein Sieges-
buch des Proletariats den unwissenden,
begehrlichen Massen eine grundfalsche
Vorstellung von der noch wenig er-
schütterten Übermacht der herrschenden
Classen vorschwindelt. Seine Kleinstadt-
Bourgeoisie ist doch nur ein Genrebild,
ein winziger Ausschnitt aus der Welt-
historie. Sein pensionierter Hauptmann ist
nicht der oberste Kriegsherr mit unab-
sehbarem eisernen Militärsystem, sein
armer Abbé nicht der Papst, sein Provinz-
fabrikant nicht ein Milliarden-Plutokrat.
Deshalb hat es etwas Verbrecherisches,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 262, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0262.html)