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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 261

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BLEIBTREU: »ARBEIT«.

wuth geht schon so weit, dass sie die
Charakterisierung durch Namen, diese
Eselsbrücke unserer literarischen Urgroß-
väter, nicht verschmäht und das Fabriks-
revier kurz und bündig »Der Abgrund«
(L’Abîme), die künftige Paradiesstadt
»Schönstrahl« (Beauclair) tauft, obschon
der so benannte Ort bei Aufgehen des
Vorhanges nichts weniger als schön strahlt.
Die fortwährende Symbolisierung des
Hochofens als »Ungeheuer« (Le Monstre)
des »Feuergottes« mit dazugehörigen
Cyklopen wirkt durch gequälte Phantastik
ebenso unleidlich, wie dass durch Beauclair
auch noch die symbolische, aus Ibsens
»Volksfeind« bekannte Cloake rinnt. In
dieser schwülen, dämmerigen Welt von
Symbolen und Fabelwesen, wo ein be-
liebiger Reformator ohneweiters mit
ordinären Volksmenschen das Himmelreich
auf Erden gründet, erfrischt ordentlich
wie eine wohlthuende Brise der Wirk-
lichkeit die saftige Gemeinheit der klein-
städtischen Bourgeosie, von der uns eine
Musterkarte zur Auswahl unterbreitet wird.
Diese Typen des allzu Menschlichen
sind ja leider alle, alle echt, aber indem
er sie uns ohne jede Nebenbeilage in
pikanter Sauce vorsetzt, sündigt Zola
wiederum gegen die künstlerische Objec-
tivität. Björnson stellte im zweiten Theil
von »Über die Kraft« markige Vertreter
der Herrenkaste gegenüber und hütete
sich wohl, seinen Arbeitern unmöglichen
Edelsinn zuzumuthen; sehr mit Absicht
steuert dort zum Strikefond niemand von
den »Brüdern« des Volkes bei, sondern
nur der eine hochgebildete Idealist, der ja
immer in solchen Fällen seine eigene Haut
für das feige Volk zu Markte trägt, unterhält
die ganze Bewegung durch sein Vermögens-
opfer. Bei Zola aber strotzen die Arbeiter,
obschon aus gleichem Menschenkoth ge-
knetet und nur noch mehr depraviert, von
angeborener Klugheit und Tüchtigkeit,
während die höhere und niedere Bourgeosie
aus lauter verbrecherischen Trotteln be-
steht. Halbwegs minder verächtlich —
halbwegs »anständig« kann man nicht
einmal sagen — ist höchstens Delaveau,
das brutal beschränkte Arbeitsautomobil,
das aus soundsoviel Menschenfleisch so-
undsoviel Francs herausquetscht. Übrigens
verleugnet Zola selbst hier nicht den Ideo-

logen, indem er den verrückten Gerichts-
präsidenten am Schluss geradezu anarchi-
stisch denken, d. h. diese Selbstbekehrung
gerade an Angehörigen der unbekehrbarsten
Berufsclasse sich vollziehen lässt, an deren
Größenwahn und Aberglauben an ihr
Buchstabenjus bekanntlich Hopfen und
Malz verloren ist. Doch unter all den
Canaillen, wo Jeder in gleicher Mischung
Unsittlichkeit mit Heuchelei, Borniertheit
mit crasser Selbstsucht vermählt, wo auch
die staatlich patentierte Culturvertretung
des Gymnasiallehrers ein vollgerüttelt Maß
zornigen Spottes über seinen despotischen
Unfehlbarkeitsdünkel empfängt, steht eine
reinere Gestalt da, in deren rührender
Komik sich die göttliche Wahrheitsliebe
des echten Dichters noch einmal offenbart.
Der dumme, brave katholische Priester.
Diese ihm eingeräumte Ausnahmestellung
wird niemanden überraschen, der Zolas
Lebenswerk aufmerksam verfolgte. Wäh-
rend ihm der Sinn für Poesie und Tugenden
des Soldatenthums mangelt, und auch hier
wieder der »Säbel« (Capitain Jollivet)
als roher, widriger Bramarbas erscheint,
hat der große Mann die Campagne wider
den »Weihwedel« nie im Tonfall seiner
radicalen Genossen mitgemacht. Denn
willst du genau erfahren, was sich schickt,
so frage nur bei edlen Dichtern an
Ihre Gerechtigkeitsliebe fordert gebieterisch
ein feines Taktgefühl. Wohl griff er den
Clericalismus gewaltig an, wie es sowohl
seiner materialistischen wie freiheitlichen
Tendenz entspricht, wohl schlug er im
Meisterwerk »La faute de 1’Abbé Mouret«
dem Cölibat eine unheilbare Wunde, wohl
gaben »Lourdes« und »Rom« (schwächere
Leistungen) den Kirchenzeloten Anlass,
ihn auf den Index zu setzen; dagegen
bewies er feinstes Verständnis für die
mystische Poesie der katholischen Kirche
(»Le Rêve«) und ihren mächtigen Bau,
nirgendwo findet man bei ihm die üblichen
Pfaffencaricaturen der Aufklärungsliteratur.
Wundervoll gelang z. B. im »Germinal«
der asketische Fanatiker, und gerade an
seinen Gestalten gewahren wir die noch
ungebrochene Gewalt und das feste Gefüge
des Katholicismus. Nun wohl, und da
sollen wir ihm jetzt auf einmal glauben,
dass die Weltmacht schon zu Ende gieng?
Die kurze Scene, wo der einfältige, kleine

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 261, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0261.html)