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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 260

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BLEIBTREU: »ARBEIT«.

völlig unvorstellbar, unwahrscheinlich und
unmöglich erscheint, das sind die Evo-
lutionswunder, die dieser Held binnen
kurzer Zeit mit dem gewöhnlichen
Menschenmaterial vollbringt. Zwar der
brave, ehrliche Arbeiter Bonnaire mag
auch noch angehen, es ist kein leerer
Wahn, dass sich verborgen und unbe-
kannt im Volke solche Tüchtige, Pflicht-
bewusste vorfinden. Aber schon der
Anarchist Lange ist ein zweifelhaftes Ge-
bilde, und es ist traurig, sich sagen zu müssen,
dass unter allen Gestalten des Romanes
das elende Kleeblatt Ragu — Vater, Sohn
und Tochter — am echtesten wirkt. Und
woher kommt es wohl, dass Zola die un-
bedingt richtige Episode, wo Proletarier
und Bourgeois gemeinsam den Wohlthäter
Froment steinigen wollen, sorgfältig und
logisch vorbereiten konnte, dass er hin-
gegen plötzlich nur eine Handvoll unmoti-
vierter, allgemeiner Phrasen ohne jede
psychologische Ausführung und ohne auch
nur einigermaßen genügende Breite uns hin-
wirft, wo er die plötzliche Standhaftigkeit
der treubleibenden Associationsgenossen,
als das große Experiment zu scheitern
droht, und ihren allmählichen Sieg, sowie
alle nachfolgenden, Sieg auf Sieg häufen-
den Entwicklungen schildern soll?! Nirgend-
wo plastische Vorführung dieser intimen
Kämpfe, Analysierung der Ursachen,
psychologische Möglichmachung dieses
neuen, zufriedenen Geschlechtes durch ge-
naue Abwägung von Ursache und Wirkung
in plastischen Bildern — sondern wir
werden einfach wie in pragmatischer
Chronik mit kurzem Aufzählungsbericht
dieser Wunder abgespeist. Warum? Weil
Zola heimlich seine eigene Fähigkeit ver-
siegen fühlte, das von ihm gewollte Pro-
blem im Schema seines doctrinären, socia-
listischen Dogmas wirklich zu veranschau-
lichen. Denn die ganze Möglichkeit seines
enthusiastischen Prophetenbuches hängt
mit der Frage zusammen: Kann man
mit diesen durch Unterdrückung, Noth
und Alkohol herabgewürdigten, in ihrer
Weise geradeso genuss- und habgierigen
Lohnsclaven der Bourgeoisie, deren mora-
lischen Durchschnitt er uns im Dreiblatt
Ragu so trefflich vergegenwärtigt hat, die
freie Association überhaupt in Angriff
nehmen?! Sie, die sich in ihrem Schmutz

und ohnmächtigen Toben karmamäßig
wohlfühlen, ja wie Vater Morfain auf
ihre primitive Sclaverei stolz sind oder
wie Vater Ragu das Ausbeuterthum als ihr
eigenes Ideal und ihre einzige Sehnsucht
heimlich verehren, sie erwachen über Nacht
zu freien Männern, die in der Arbeit selbst
ihr Glück sehen und freiwillig in selbstloser
Solidarität ihr gemeinsames Heil gründen?!
Solche Ammenmärchen erzähle Zola einigen
blinden Doctrinären oder einem unver-
ständigen socialdemokratischen Bildungs-
verein. Jeder Vernünftige weiß den natür-
lichen Schluss aus den Folgen der Sclaven-
Emancipation in Amerika zu ziehen,
die auch heute noch nicht diese befreiten
Lastthiere zu anständiger Selbstthätigkeit
aufrütteln konnte, desgleichen aus dem
Null-Ergebnis der Leibeigenschafts-Auf-
hebung in Russland. Vielleicht unterstehen
die Lohnsclaven höherer Culturrassen
intellectuell nicht dem nämlichen Gesetz,
moralisch aber ganz gewiss, und darauf
kommt es bei reformatorischen Associativ-
bünden vor allem an, da sie opfermüthiger,
mannhafter Entschlossenheit und begeisterter
Einsicht bedürfen, um sich gegen die ver-
einte Concurrenz der nicht associierten
Unternehmer zu behaupten. Wir bestreiten
daher Zola-Froments Reformwerk jede
Grundlage: Erstens, dass es überhaupt
möglich sei, eine so kühne That mit dem
gleichen Geschlecht durchzuführen,
das unter dem »Salariat« verkommen und ent-
sittlicht war, sondern dass es dazu jedenfalls
mehrerer Menschenalter bedürfte; zweitens,
dass die freie Association, dieser Wipfel
des socialistischen Blütentraumes, je erreicht
werden könne, ehe man zu langsamem
Wachsthum die Wurzel pflanzte, d. h.
durch den staatssocialistischen Collectivis-
mus hindurchgieng.

Zola ist bekanntlich kurzsichtig, aber
das hinderte ihn nie am Sehen, denn er
trug eine sehr scharfe Brille. Heute jedoch
ist er des trockenen Tones nun satt, des
emsigen Spähens und Document-Zusammen-
scharrens. Weg mit der alten Realismus-
Brille! Des Dichters Aug’, in schönem
Wahnsinn rollend, öffnet weit den Seher-
blick und sieht nun überhaupt keine
wirklichen Menschen mehr, sondern nur
construierte Menschheitsideen und vor allem
Symbole. Diese greisenhafte Allegorisierungs-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 260, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0260.html)