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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 259

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BLEIBTREU: »ARBEIT«.

liche Züge verrathend. Sie appellieren
nicht nur an unser Mitleid, sondern geben
uns die Zuversicht, dass man ihr sittliches
und geistiges Niveau durch bessere Lebens-
bedingungen heben werde, überzeugen uns
von der unerlässlichen Nothwendigkeit
socialer Reformen und feuern uns an, für
gerechtere Besserung der Lebenshaltung
unserer Enterbten einzutreten. Zugleich
hat der große Dichter hier ergreifend in
der Soldaten-Episode (gegen den Strike)
gezeigt, dass anständig Fühlende innerlich
selbst unter ihrer Pflicht, für eine erbar-
mungslose Gesellschaft einzutreten, leiden.
Vor allem lehrt er in der hochdichterisch
empfundenen Scene, wo der Fabrikant,
gegen den die Ausgebeuteten anstürmen,
gleichzeitig das fürchterlichste seelische
Unglück erfährt und fast das Los dieser
Hungernden beneidet, dass der Mensch
nicht vom Brot allein lebt, dass also der
schönste sociale Ausgleich nur das
materielle, schwerlich je das ideelle Leid
austilgen könne. Diese großartige Karma-
Erkenntnis gieng dem gewaltigen Manne
jetzt völlig verloren. In ödestem Forma-
lismus wähnt er durch angebliche Lösung
der Magenfrage auf einen Schlag das
Weltübel besiegt zu haben. Dieser Einfluss
radicaler Doctrinäre, dem er durch Ein-
mischung in den Dreyfuß-Handel verfallen
zu sein scheint, hat an ihm die alte Er-
fahrung bestätigt, dass Dichter sich nicht
mit der unsauberen Tagespolitik befassen
sollten. Im »Germinal« steht dieser
Shakespeare des Romanes wahrlich auf
höherer Zinne, in »Arbeit« mitten in der
Partei, und was dabei herauskam, war ein
unkünstlerisches, tendenziöses, rhetorisches
Parteimanifest.

Nicht als ob Zolas unvergleichliche
Kunstkräfte an sich gelitten hätten. Die
Anfangsuntermalung der Milieu-Situation
zeugt von der alten, treffsicheren Meister-
schaft. Aber sobald die Weltbeglückungs-
firma Froment, Jordan & Co. ihr Geschäft
anhebt, verwirren sich alle Linien, alles
Real-Mögliche geht drunter und drüber.
Die idealen Helden des Romanes freilich
wollen wir künstlerisch bestehen lassen. Der
stille Gelehrte Jordan ist durchaus lebens-
möglich, derlei »Helden der Wissenschaft«
können aber als wirkliche Helden
höchstens den anderen Verlehrten gegen-

über gelten, die ihren Specialistenkram
für den Nabel der Erde und ihre persön-
liche Eitelkeit für Majestät der Wissen-
schaft ausgeben. Dass aber ein reicher,
zum »Umpusten« schwächlicher Mensch
sich vor jedem unsanften Lüftchen in die
stille Zelle gelehrter Forschung ver-
schließt und dort den Ruhm und Genuss
sucht, die ihm sonst versagt blieben, ja
durch methodische Arbeit sein schwaches
Lebensflämmchen erhält, also geradezu
seine persönliche physische und psychische
Rettung darin findet, ist doch wahrlich
kein selbstloses Heldenthum. Und bei der
Schwester Jordans, der angeblichen weib-
lichen Idealgestalt, hat der Realist in
Zola wieder derart den Ideologen über-
mannt, dass er in der abstoßend wahren
Scene, wo Soeurette in gemeine erotische
Eifersucht ausbricht und partout sinnlich
geliebt sein will, für den Menschenkenner
den letzten Rest falscher Idealität abstreift.
Denn die Zwangsentsagung der meisten
mittelmäßig »Guten« ist auch nur ver-
kappter Egoismus, um sich über zu saure
Trauben durch »Tugend« wegzutrösten und
einen anderen Lebensberuf zu finden, als
den sonst heißersehnten des materiellen
Glückes. Dagegen der junge, kraftvolle,
schöne, begabte Froment, der sich aus
freiestem Drange ganz dem Wohl der Ent-
erbten weiht, ist ein wirklicher Held, und so
ausschweifend Zola hier idealisiert, wollen
wir auch diese Figur nicht antasten. Denn
warum sollte nicht ein Buddha-Charakter
erstehen, der mit der gleichen persönlichen
Leidenschaft, wie andere ihre egoistischen
Ziele, Gerechtigkeit und Menschenliebe er-
fasst! Nur möge uns Zola die Frage
erlauben, wo er bisher seit den alten
»Heilanden« einen solchen praktischen
Socialreformer in der Weltgeschichte fand,
da ja dann die sociale Frage längst ihrer
Lösung nähergerückt wäre, und uns den
Zweifel gestatten, ob aus der modernen
rückgratlosen Culturgesellschaft ein solcher
Gesinnungsheld der That je herauswachsen
würde. Doch immerhin bleibt so etwas
vorstellbar; denn der ungewöhnliche Einzel-
mensch, der Abnorme und Geniale, spottet
der Regel und kann immerdar »erweckt«
werden, wenn die Zeit erfüllt ist. Hier
aber endet unsere Concession an die Ein-
bildungskraft des Dichters. Denn was

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 259, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0259.html)