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Unter diesem vielversprechenden Titel
hat Zola seiner neuen Serie, welcher er
den anmaßenden Gesammttitel »Die Evan-
gelien« zu verleihen für gut fand, ein
erstaunliches Romanbuch von bedeutendem
Umfange beigefügt. Zola hat sich in
seine Voltaire-Rolle als Menschheitsbefreier
nun ganz eingelebt. Nicht zufrieden mit
dem j’accuse seiner früheren Romansatiren,
lüstet ihn jetzt nach dem Reformator-
thum eines Tolstoy, allerdings in völlig
entgegengesetztem Sinne; denn während
jener das mystische Bedürfnis und religiöse
Empfinden in den Vordergrund rückt, sogar
die Kunst verdammt und die sogenannte
Cultur in gesündere Primitivzustände zu-
rückschrauben möchte, sieht Zola umge-
kehrt das goldene Zeitalter in den Fort-
schritten der Civilisation und der technisch
angewandten Wissenschaft. Aber selt-
sam! Möge der Symbolist Zola es
selber als symbolisch aufnehmen, dass
der religiöse Sittlichkeitsfanatismus in
Tolstoys herrlichem Greisenbuch »Auf-
erstehung« weit mehr lebendige Kraft und
Wirklichkeitssinn auslöst, als der phan-
tastische Selbstbeglückungsdusel bei Zola.
Freilich, nachdem Tolstoy die innere Ver-
kommenheit des Volkes einerseits und
unsere veraltete, ungerechte Justiz und
Gesellschaftsheuchelei andererseits mit
kräftigen Farben brandmarkte, wird sein
Roman immer matter und lebloser, je
mehr er sich der angeblichen sittlichen
Auferstehung nähert, wo der Wüsten-
prediger aufhören und der wirkliche Re-
formlehrer beginnen soll. Bei Zola aber
bedürfen wir nicht einmal des unglaub-
lichen Schlusstheils, um uns von seiner
ideologischen Raserei zu überzeugen;
er rast von Anfang an, sein stiller
Wahnsinn stofflicher Natur- und Mensch-
heitsvergötterung, der sich schon am
Schluss seines vorigen Romanes »Frucht-
barkeit« erschreckend lächerlich ankün-
digte, hat jetzt seine Krise erreicht. Dieser
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förmliche Veitstanz eines kindlichen Opti-
mismus, der im Handumdrehen das Pro-
blem des größten materiellen Glückes für
die größte Masse löst, kreiselt immerfort
um sich selbst herum in blinder, toller
Dogmengläubigkeit. Denn die heulenden
Derwische des atheistischen Materialismus
geben an zelotischer Unfehlbarkeit und
grimmiger Hetzsucht gegen Andersgläu-
bige den geschmähten »Pfaffen« nichts
nach. Die künstlerische Folge aber bleibt
nicht aus, dass trotz mannigfacher Einzel-
schönheiten, die sich bei unserem großen
Meister Zola von selbst verstehen, der
Gesammteindruck noch unerfreulicher, zer-
fahrener und schaler wirkt, als in »Frucht-
barkeit« oder seinem schwächsten Werk
»Zusammenbruch«, dessen einseitige und
unplastische Verzerrung des Militarismus
dem stofflichen Heißhunger des Lese-
pöbels besser schmeckte, als seine wirk-
lichen Meisterwerke, nach Ausweis der
Auflageziffern. Diese neueste »Arbeit«
zeigt so unbestimmte Contouren, so blasse
Schemen, so blöde Engels- und Teufels-
fratzen, dass wir in diesem großgedachten
Frescogemälde des Kampfes zwischen
Proletariat und Bourgeoisie gerade den
fleißigen, energischen »Arbeiter« Zola
nicht wieder erkennen. Überall da, wo
seine eigentliche Arbeit einsetzen sollte,
huscht er mit Redensarten darüber weg,
speist uns wie in den Kriegsbildern von
»Débâcle« mit chronikartig trockenen
Berichten ab, bricht alle psychologischen
Begründungen übers Knie.
Man braucht nur seine großartigste
Dichtung »Germinal« damit zu ver-
gleichen. Auch diese ist eine Allegorie,
aber dantesk daran ist nur die groß-
artige Gedankenanlage; die Ausmalung
dieser modernen irdischen »Hölle« hütet
sich aber sehr vor der dantesken Über-
sinnlichkeit, sondern strotzt von plastischer
Realität. Diese Arbeiter sind echt, unter
Roheit und Gemeinheit bessere mensch-
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