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an seinem Ohr ungehört vorbei: »Nur ein
Künstler kann den Sinn des Lebens er-
rathen«, meinte Novalis, und eben bei
den Künstlern, bei den Schaffenden von
Gottes Gnaden, sucht Wolinsky den Sinn
des Lebens, das Absolute und Welt-
erlösende im menschlichen Herzen, das
Göttlich-Unpersönliche der menschlichen
Individualität. Das menschliche Herz,
schreibt Dostojewsky, ist ein Schlacht-
feld. Damit, meint Wolinsky, wollte er
sagen, dass die Quelle des menschlichen
Stolzes sich dort befindet, wo auch die
menschliche Demuth und Innigkeit ihre
Entstehung hat. Gut und Böse — beide
sind räthselhaft, beide sind schrecklich in
ihrem Mysticismus, beide entstehen in
den unbewussten Tiefen der Seele. Dort
— in diesen Tiefen nämlich — entsteht
das Gebet und der Fluch. Dieses und
jenes sind mystischen Ursprunges. Eins
ist eine positive, mystische Kraft, das
andere — eine mystische Kraft mit einem
Minus an der Spitze. Darin, meint Wo-
linsky, liegt die große Kraft Dostojewskys,
dass er wie kein Zweiter die theophobischen
und theophilischen Anfänge des mensch-
lichen Herzens meisterhaft gestaltet. Alles
ist bei Dostojewsky furchtbar principiell,
im besten, erhabensten Sinne dieses Wortes,
alles geht bei ihm zu Gott hin oder von
ihm aus, alles erhebt sich oder sinkt —
nichts bleibt auf einen Augenblick in Ruh’
oder im Gleichgewicht. Es scheint, wie
wenn im Leben nichts Nicht-Tragisches
wäre, nichts Leichtes, kein zielloses Spielen,
weil all dies in der äußerst gespannten
und grellen Malerei Dostojewskys nicht
vorhanden ist. Das ganze Karamasow’sche
Reich befindet sich auf einem Vulcan,
weil die Seele Dostojewskys, aus welcher
dieser Roman hervorgieng, ein echter
Vulcan war. Der neutestamentarische
Mensch bricht sich hier Bahn, in dem
unaufhörlichen Kampf begriffen, nicht nur
mit den ihn Umgebenden, sondern mit
sich selbst, mit den alttestamentarischen
Anfängen seiner eigenen Seele.
Gegenwärtig befindet sich Herr
Wolinsky auf einer wissenschaftlichen
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Reise nach Griechenland, Italien und
Constantinopel. In einem Briefe vom
April d. J. schreibt er unter anderem:
»Meine zukünftigen Arbeiten schweben mir
in folgender Gestalt vor: Für das Ver-
ständnis der russischen Kunst erscheint mir
das Studieren des Einflusses der Heiligen-
bildermalerei und der literarischen byzan-
tinischen Anfänge nöthig, die in ihre Tiefe
eindringen und dort sich mit etwas Ur-
eigenem verschmelzen mussten. Eben diesen
ursprünglichen Anfang, den Urquell all
des Originellen, das in der russischen
Kunst erreicht worden ist, ist es nöthg, her-
vorzuheben und einer eingehenden Unter-
suchung zu unterziehen. Mir scheint, dass
eben auf diesem Fundament die russische
Kunst gegründet werden muss, weil die
neueren, westeuropäischen Einflüsse nur
die Oberfläche der russischen Kunst
berührten und in ihrer Tiefe unter-
giengen.
Auf Puschkin angewendet, muss
diese Arbeit, wie ich hoffe, die inter-
essantesten Resultate liefern. Puschkin ist
der nationalste russische Dichter und das
Bild seiner alten Amme, Arina Rodjonowna,
die ihm von seiner frühesten Kindheit an
russische Märchen und Geschichtchen ins
Ohr flüsterte, kommt mir als lebendige
Verkörperung jenes volkstümlichen Ele-
mentes vor, mit dem er in ihrer Gestalt
in enge Fühlung gerieth.
Sollte diese meine Arbeit zu Ende
geführt sein, werde ich mich durch die
russische Literatur, wie ich das schon
durch Leonardo da Vinci, Ljeskow,
Dostojewsky versuchte, an die religiöse
Frage machen, an die Frage des echten
Christenthums in seinem echten, reinen
evangelischen Ausdrucke. Christus regte
mich von meiner Kindheit an wie eine
lebende Persönlichkeit auf, und diese
lebende Persönlichkeit will ich durch
den Nebel der Legende gewahr werden,
denn nur sie concret mir vergegen-
wärtigend, werde ich imstande sein, in
der Legende mich zurechtzufinden in
ihren Einflüssen auf die neuen Menschen.«
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