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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 256

Text

MELNIK: RUSSISCHER BRIEF.

(verlegt von einem Verehrer des Autors:
N. G. Molostwow, Redacteur der täglichen
Zeitung »Pribaltijsky Krai«). »Ich gehöre«
— schreibt er in der Vorrede — »zu
den unversönlichen Feinden jeder Routine,
aller bourgeoisen Begriffe und Sympathien.
Das Gepräge unserer Tage mit seiner
Agiotage, seiner geistigen Unsauberkeit
und sittlichen Corruption, mit dem An-
spielen auf den verrosteten Saiten des
Liberalismus in seinen »ehrlichen« Or-
ganen kommt mir als eine Erscheinung
vor, die zu einem ehrlosen Untergang
verurtheilt ist. Mein Buch betitelte ich
»Ein Kampf für Idealismus«, weil ich,
insofern es mir möglich war, in
meinen Aufsätzen den Gedanken zum
Ausdruck brachte, dass nur der Idea-
lismus — das Schauen des Lebens im
Geiste, in den Ideen der Göttlichkeit und
der Religion — imstande ist, der Kunst,
den Gesetzen des künstlerischen Schaffens
eine Erklärung zu geben und einen Impuls
jedem anderen Schaffen — dem praktischen,
sittlichen, zu verleihen. Die Kunst und
das Leben selbst scheinen mir nur auf
diesem Wege sich erneuern zu können:
durch die Erleuchtung des Bewusstseins
mit Ideen höherer Ordnung, mit Ideen,
die aus den Ekstasen der Seele, »die voll
Vernunft und letzter Ursache«, wie Dosto-
jewsky sich ausdrückt, geschöpft werden.«
Wolinsky war der Erste in Russland,
welcher über Nietzsche geschrieben hat.
Als sein bedeutendstes Werk betrachtet
er »Die Geburt der Tragödie«. Sein Auf-
satz über dieses Buch war die Ursache
seiner Bekanntschaft mit Frau Lou Andreas
Salomé, mit welcher er nachher zusammen
eine Novelle geschrieben hat. Gerade in
Russland wird man die Nietzsche’sche Welt-
anschauung überwinden. Wolinsky meint,
dass Nietzsche in Dostojewsky schon über-
wunden wäre. Der gegenwärtige Mensch,
der alle Täuschungen und Enttäuschungen
aller verschiedenartigen, äußeren Culturen
durchmachte, hat in sich das Empfinden
Christi — dies oder jenes, das feindliche
oder freundliche, aber ein lebendes und
wirkendes. Dies Empfinden regt den Men-
schen auf und ist der Zeiger der vor-
herrschenden Richtung in seiner ganzen
Natur. In der Geschichte der Menschheit
gab es vielleicht keine andere Epoche,

in der der Name Christus eine solche
scharfe Bedeutung hätte, wie er jetzt für
alle Welt hat, denn gerade jetzt, die Schule
des wissenschaftlichen und kritischen Idealis-
mus durchmachend, erhielt der Mensch
die Möglichkeit, sich einer bewussten (ich
behalte die Terminologie Wolinskys bei)
Theophobie oder einer bewussten Theophilie
hinzugeben. Christus ist zu neuem, er-
habenem Schmachten und großen Kämpfen
in der Gegenwart auferstanden.

Diesen gottfreundlichen und gottfeind-
lichen Anfängen in der menschlichen
Natur ist das neu erschienene Buch Wo-
linskys über Dostojewsky und Ljeskow
gewidmet. (»Das Reich der Karamasows,
N. S. Ljeskow.« St. Petersburg, 1901).
»Ich will« — lesen wir in der kurzen
Vorrede — »versuchen, eine Erklärung zu
den »Brüdern Karamasow« zu geben, dies
große Reich genau zu überschauen — dies
so merkwürdige, seltsame, von dem allge-
mein literarischen Puschkin’schen Reiche
so verschiedene. Was für eine eigenartige
Erde und ein eigenartiger Himmel hier!
Man irrt unter einer unüberzählbaren
Masse, unter echt russischen Leuten —
und unter was für Leuten: rasende Lüst-
linge und Heilige, die wissen, auf was
für schrecklichen Contrasten sich das
Leben hält, Weise mit einem dämonischen
Gedankenschwung, Leute des »großen
Zornes« und des inneren »Risses«, Epi-
leptiker und Fanatiker, und unter ihnen
Kinder, sorglos wie die Vögel, und
an der Grenze dieses Karamasow’schen
Reiches — die Wände weißer Klöster.
Dies Reich muss man aus der Nähe
studieren, denn nur bei einem solchen
nahen, geraden Studieren beginnt man
seine Erde zu fühlen und seinen Himmel
zu begreifen. Das ist schon die besondere
Eigenheit dieses Reiches, dass man es
mit keinem Begriffe zu umfassen vermag,
auch in keinem Schema, weil hier alles
noch entsteht, sich bildet, beginnt. In der
Gährung des psychologischen und ideellen
Widerspruches sammeln sich neue Ele-
mente, krystallisieren sich neue Typen
und neue Schönheiten.« Dreizehn Auf-
sätze behandeln verschiedene Typen und
psychologische Zustände des Romanes.
Wolinsky versteht einen Künstler künst-
lerisch zu genießen. Keine Silbe gleitet

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 256, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0256.html)