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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 255

Text

MELNIK: RUSSISCHER BRIEF.

Betrachtungen« auf russischem Boden.
Wladimir Solowjew lobte das Buch,
machte aber dem Autor den Vorwurf, es
wäre verfrüht. Eben das aber ist das
Verdienstvolle des Buches. Das Wahre
ist immer zugleich actuell und unzeit-
gemäß. Die Wahrheit braucht nie an die
Thüre zu klopfen und auf ein »Herein« zu
warten. Sie ist immer nackt, weil sie eine
innere Leuchte ist. Durch das aufmerksame
Studieren der russischen Kritik von
ihren ersten Anfängen bis zu ihren letzten
Wortführern der Gegenwart gelangte
A. Wolinsky zur Überzeugung, dass die
russische Kunstliteratur bisher keine Er-
klärer, die auf der Höhe dieser schwierigen
und höchst wichtigen Aufgabe gestanden
haben sollten, hatte. Die Kunst in Russland
gieng ihre eigenen Wege, unabhängig, oft
auch in tiefem Widerspruch mit den ober-
flächlichen geistigen Strömungen der
bourgeoisen Cultur. Die russische Kritik,
die sogar in ihren besten Vertretern sich
niemals bis zu wahrhaft philosophischen
Ideen, die jeden großen Künstler aufregen
und erfüllen, vertiefte, vermochte nicht,
dem echten künstlerischen Schaffen zu
folgen. Sich für humane Bestrebungen
begeisternd, vermochte sie sie jedoch
nicht auf unerschütterlichen Grundlagen
festzuhalten, und wider ihre eigenen
unmittelbaren Neigungen verschloss sie
sich im engen Kreise äußerer socialer
Aufgaben und Interessen, die Aufgaben
und Interessen der inneren geistigen und
ästhetischen Cultur ignorierend. Sie ließ
alles Wesentliche, was in einem Kunst-
werke lebt, unbeachtet und unbearbeitet.
Sie deckte nie jene geistigen Quellen der
Kunst auf, aus denen sie ihre idealen
Pläne schöpft. Die echte Kritik aber,
meint Wolinsky, muss die künstlerischen
und poetischen Werke sozusagen von
innen erforschen, sich ihnen mit einem
transcendenten Maßstab nähern und das
concrete Kunstmaterial als eine Form
einer mehr oder minder vollendeten
Verkörperung tieferer Erkenntnisse be-
trachten. Nur eine solche Kritik, die
den besten Instincten der künstlerischen
Talente in ihrem Kampfe mit den Ver-
irrungen ihres eigenen, zufälligen Probierens
zu Hilfe zu kommen vermag, wird die Kunst
stärken und, die Gährung der gegen-

wärtigen historischen Epoche überlebend,
in ein neues Stadium ihrer Entwicklung
überleiten, neue Muster einer neuen
Schönheit, einer mehr transparenten, den
Forderungen eines erleuchteten, sittlichen
Gefühls und Überzeugung entsprechend,
schaffen.

Es gehörte viel Eifer dazu, um sich
mit der ganzen Zeitschriften- und Zeitungs-
Literatur mehrerer Jahrzehnte zu be-
schäftigen. Ich glaube, dies Buch ist
eine literar-hygienische Reform von
großer Tragweite. Die »Russischen
Kritiker
« erschienen ursprünglich in der
von Wolinsky herausgegebenen vornehmen
Zeitschrift »Sewerni Wjestnik«. Es erhob
sich ein Lärm und Geschrei der dogma-
tischen, von der Routine zerfressenen
Schriftsteller. Die Zeitschrift verlor viele
Abonnenten, stellte jedoch die weitere
Veröffentlichung der Aufsätze nicht ein.
Die bekannte, liebe »Nowoe Wremja«
wurde nie müde, zu verleumden und zu
hetzen. Doch die Einzelnen, auf denen
es einem jeden begabten Autor ankommt,
wussten, was dies Buch bedeutet. Lou
Andreas Salomé sagt in einem Aufsatze
über Wolinsky, er müsse erst sterben,
damit sein Wert erkannt werde. Ich
meine, der noch verhältnismäßig junge
und sehr begabte Wolinsky kann ganz
ruhig leben bleiben, bloß das »verehrte
Lesepublicum« mag ein wenig — ich
wünsche es von ganzem Herzen — ge-
scheiter werden. Die »Russischen Kritiker«
sind nicht von dem Tage und für den
Tag bestimmt. Ihre Zeit wird kommen.

Wolinsky schrieb auch mehrere Auf-
sätze über Philosophie. Er ist einer der
Wenigen in Russland, die ein reges Ohr
für alles, was im culturellen Europa vor-
geht, haben. Dass er den Gogol’schen,
von dem bleiernen, russischen Liberalismus
verdammten Briefwechsel mit seinen
Freunden in all seiner tragischen Seelen-
schönheit dem russischen Publicum vor-
führte, denselben Briefwechsel, der den
bekannten gehässigen Brief Bjelinskys an
Gogol hervorgerufen hat, ist ein Verdienst,
das man Wolinsky in der russischen
Literaturgeschichte nachsagen wird.

»Ein Kampf für Idealismus« ist der
Titel eines zweiten Wolinsky’schen Werkes,
kritischer und philosophischer Aufsätze

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 255, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0255.html)