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Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 254

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RUSSISCHER BRIEF.
Von JOSEF MELNIK (St. Petersburg).

Zwischen dem selbständigen künst-
lerischen Schaffen und der literarischen
Kritik in Russland existiert eine tiefe,
unüberbrückbare Kluft. Sie gehen beide
ihre eigenen, fast entgegengesetzten Wege.
Die Kritik ist die gefährliche Begleiterin
der russischen Kunst; sie ist das traditio-
nelle Missverständnis derselben. Während
die russische Kunst den Stempel der Ewig-
keit an sich trägt, ihre Wurzeln in dem
dunklen Urgrund des Seins hat, immer
nach dem Menschen jenseits aller Con-
ventionen und äußeren Bedingungen sucht
und forscht, urtheilt die russische Kritik
von ihrem politischen Standpunkte. Sie
spricht in leidenschaftlichem Tone vom
vorübergehenden Tage, und meint, die
Ewigkeit zu verkünden. Denn die russische
Kritik ist nicht bloß Kritik, nicht ein Ein-
heitliches, ein Gewisses, ein Abgegrenztes
und Bestimmtes, sondern ein Heterogenes,
ein literarisches Durcheinander. Die poli-
tischen Zustände in Russland haben
bewirkt, dass die Kritik sogar beim
Beurtheilen künstlerischer Werke ersten
Ranges von einem socialen Utilitarismus
erfüllt ist. Die Kritiker sind in Russland die
gefeiertesten Leute. Die Jugend verschlingt
mit einem Heißhunger sondergleichen
alles, was aus der Feder des Modekritikers
herauskommt; und Modekritiker kann nur
Der werden, der kritische Studien sein
sollende Aufsätze über national-ökonomische
und politisch-sociale Fragen schreibt. Der
äußere Druck hatte zur Folge, dass der
Enthusiasmus und edle Idealismus der
russischen Jugend sich in einem groben
Utilitarismus, für den sie sich sogar auf-
opfern kann und oft in altruistischer Selbst-
vergessenheit sich auch aufopfert, mani-
festiert haben. Der erste hervorragende
russische Kritiker Bjelinsky besaß noch
künstlerischen Geschmack, hatte noch
Geruchsinn, der mit den Jahren abnahm.
Pissarew bekämpfte Puschkin, dieses noch
nie ganz entdeckte, nur von Einzelnen

geahnte Genie des russischen Volkes,
das Europa wie Russland in seiner
ganzen tiefen Einfachheit und genialen
Urselbständigkeit verständlich ist. Dem
Tragischen des russischen Lebens be-
gegnen wir auch in der Literatur. Die
künstlerisch veranlagten russischen jungen
Leute, die einen Dostojewsky, Puschkin,
Tolstoi, Gogol, Gonczorow, Turgenjew,
Czechow, Tjntezew, Garschin u. n. a. be-
sitzen, sehen einige Stunden den Stücken
Hauptmanns oder Ibsens zu, sind aber bereit,
für eine Broschüre, für eine Zeile von
Engels oder Marx ins Gefängnis zu
wandern. In Russland ist die Kritik der
Kunst nicht gewachsen, was aber noch
schlimmer ist: Die russische Kritik und
die russischen Kritiker wurden sanctioniert,
als unfehlbar proclamiert.

Gegen diese parteiische und einseitige
Auffassung der Kunst, gegen diese Ver-
nachlässigung aller geistigeren Bedürfnisse
und gegen das leichtsinnige Verhältnis
zu den religiösen und weltumfassenden
Neigungen der Seele trat A. Wolinsky
auf. Sein Buch »Russische Kritiker«, in
dem er alle Kritiker von Bjelinsky bis auf
Michailowsky einer strengen, aber ehr-
lichen und gerechten Kritik unterzog, ihre
einseitigen Zeitverirrungen analysierte, er-
weckte eine starke Polemik in der russi-
schen Literatur. Die Kritiker sind ja die
Götzen der Jugend, weil das Leben einiger
von ihnen — wie z. B. das von Czerni-
schewsky — ein politisches Martyrium war.
Man wollte aber nicht von der Wahrheit
wissen, dass Märtyrer beiweitem noch
keine Beweise für die Richtigkeit ihrer
Ideen sind. Wolinsky, bevor er mit seiner
eigenen Kritik hervortrat, musste die falsche
Tradition, die Routine der öffentlichen
Meinung und der öffentlich Meinenden
bekämpfen. Er musste den alten Maßstab
als ungiltig und falsch erklären. Dies
geschah auch in seinem Buche »Russische
Kritiker«. Das ist eine Art »Unzeitgemäße

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 5, Nr. 12, S. 254, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-05-12_n0254.html)